Hamburg. Cybermobbing und postnatale Depressionen seien häufig ein Problem, sagt die Hamburger Kinder-und Jugendpsychiaterin Dr. Ott.
Der aktuelle und viel diskutierte Kinofilm Systemsprenger, deutscher Beitrag im Rennen um den Auslands-Oscar, lässt dieser Tage viele Zuschauer verstört und nachdenklich zurück. Die Frage: Gibt es wirklich Kinder wie dieses junge Mädchen, die das System so derartig sprengen, die nicht erziehbar sind und so gut wie nicht therapierbar erscheinen?
„Natürlich gibt es diese Fälle, und es ist gut, dass das ein bisschen mehr ins öffentliche Bewusstsein kommt“, sagt Dr. Sabine Ott, Chefärztin der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Asklepios Klinikum Harburg. „Aber ich gebe zu: Der Film ist schwer auszuhalten – auch für mich“, sagt die Fachärztin in einer neuen Folge der „digitalen Sprechstunde“, dem Podcast von Hamburger Abendblatt und Asklepios.
Dr. Ott kritisiert Ärzte-Darstellung im Film
Die Geschichte sei sehr realistisch geschildert, nur eines störe sie: „Wie die Arbeit von uns Kinder- und Jugendpsychiatern dargestellt wird, das gefällt mir nicht. Da kommt so eine Frau im weißen Kittel vor, die Medikamente verschreibt und sagt, mehr könne man jetzt eigentlich nicht machen. So sehen wir uns gar nicht.“ Einen Kittel trage sie selbst zum Beispiel auch so gut wie nie – „einfach, weil ich nahbar sein will für unsere jungen Patienten.“
Doch wie sieht die tägliche Arbeit einer Kinder- und Jugendpsychiaterin aus? „Die Probleme, mit denen wir zu tun haben, sind so heterogen wie die Menschen und so vielseitig wie das Leben“, sagt die Medizinerin, die in ihrer Heimatstadt Essen studiert und promoviert hat. „Wir betreuen Familien aus sogenannten Brennpunkten genauso wie Kinder und Jugendliche aus gut situierten Milieus. Die Probleme sind übrigens oft dann doch ähnlich.“
Cybermobbing gab es vor zehn Jahren noch nicht
Ein großes Thema unter Teenagern sei das Cybermobbing. „Das gab es vor zehn Jahren noch gar nicht in dieser Form.“ Als behandelnde Ärztin, die auf die 50 zugehe, sei vieles zunächst weit weg und fremd.
„Es ist eine große, aber notwendige Herausforderung, sich mit der Technik zu befassen, um sich in die Welt der Jugendlichen hineindenken zu können.“
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Druck der sozialen Medien macht Kinder krank
Der Druck, in den sozialen Medien präsent zu sein und gemocht zu werden, mache viele Kinder krank. Können Eltern den Nachwuchs schützen? „Schwierig, Verbote bringen jedenfalls nichts, glaube ich“, sagt die Expertin. Man könne nur so früh wie möglich versuchen, das Selbstwertgefühl der Kinder zu stärken und ihnen soziale Kompetenz zu vermitteln.
„Das kommt aus meiner Beobachtung heraus in der Erziehung heute oft zu kurz. Da geht es schon früh um Leistung, um Fremdsprachen, um Freizeitprogramm. Aber wie man eigentlich Freundschaften pflegt, Konflikte richtig austrägt oder wie man im Leben stehen sollte, das wird nicht mehr besprochen oder vorgelebt.“
Von Schreibabys bis zum Magersucht-Mädchen
Die Fälle, die Dr. Sabine Ott und ihr Team ambulant auf den insgesamt vier Stationen in Harburg sowie in den beiden zugehörigen Tageskliniken in Harburg und Osdorf begleiten, sind sehr unterschiedlich. „Es reicht von sogenannten Schreibabys mit ihren Eltern über den elfjährigen Jungen, der plötzlich die Schule schwänzt, bis zum 16-jährigen Mädchen mit Magersucht.“
Die Ursachen für das jeweilige Verhalten seien höchst individuell. „Da gibt es keine Schablone. Wir müssen also erst mal herausfinden, was los ist.“ Manchmal könne den Patienten sehr schnell mit ein paar Treffen geholfen werden. „Wenn ein Baby andauernd schreit, kann es zum Beispiel was Körperliches haben, das bisher schlicht nicht entdeckt wurde. Vielleicht liegt aber auch Stress in der Luft, der sich auf das Kind überträgt.“ Häufig sei auch eine postnatale Depression der Mutter ein Auslöser.
Warum Eltern bei Hilfegesuchen zögern
Wie schnell sich Familien professionelle Hilfe holten, hänge stark vom Leidensdruck ab. „Und davon, ob Eltern Angst haben vor Stigmatisierung und davor, was das Umfeld denken könnte.“ Bei magersüchtigen Kindern und Jugendlichen sei es oft der Fall, dass der jeweilige Kinderarzt die Eltern warne, dass es so nicht weitergehe.
Werden die jungen Patienten stationär behandelt, dauert der Aufenthalt im Schnitt drei Monate. In dieser Zeit besuchen die Kinder und Jugendlichen die fünf Fußminuten entfernte Klinikschule. „Wir achten auf einen stark ritualisierten Tagesablauf, den viele Kinder gar nicht von zu Hause kennen.“ Es gebe junge Patienten, die später zu ihren Eltern sagen: „Können wir es zu Hause nicht jetzt auch so machen und immer gemeinsam frühstücken?“
Ärztin holt sich Ablenkung an der Ostsee
Die Chefärztin sagt, dass ihr viele Fälle sehr nahegehen – trotz der langjährigen Erfahrung. Sie gehe gern an der Ostsee spazieren, um ein bisschen loszulassen.
„Man erlernt natürlich eine professionelle Distanz, die übrigens nichts mit Abstumpfung zu tun haben darf. Aber klar denke ich über bestimmte Schicksale lange nach.“
Das Schönste sei, wenn ehemalige Patienten im Leben wieder gut zurechtkämen. „Manche melden sich und schreiben – das freut mich dann natürlich sehr.“
Info: „Die digitale Sprechstunde“ ist die Gesundheits-Gesprächsreihe von Hamburger Abendblatt und Asklepios. Jede Woche erklärt ein Experte im Gespräch mit Vanessa Seifert ein Krankheitsbild. Die aktuelle Folge und jede bisher veröffentlichte Episode hören Sie auf www.abendblatt.de/digitale-sprechstunde/
In der nächsten Folge am kommenden Mittwoch klärt Privatdozent Dr. Christoph Terborg, Neurologie-Chefarzt an der Asklepios Klinik St. Georg, über Polyneuropathie, eine der häufigsten Nervenerkrankungen, auf.