Hamburg. Der Hamburger Uni-Präsident Dieter Lenzen spricht mit Abendblatt-Chefredakteur Lars Haider über den Einfluss von Experten und Beratern.

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Der Hamburger Universitätspräsident Dieter Lenzen und Abendblatt-Chefredakteur Lars Haider tauschen sich im Zweiwochenrhythmus in der Reihe „Wie jetzt?“ über Fragen aus, die Wissenschaft und Journalismus gleichermaßen bewegen. Diesmal geht es um Wissenschaftler, die vielleicht die besseren Politiker sein könnten. Oder doch nicht?

Lars Haider: Heute wollen wir über eine Frage sprechen, die Ihnen sehr gefallen dürfte. Sie lautet: Alle Macht der Wissenschaft?

Dieter Lenzen: Ob sie mir gefällt, weiß ich nicht, weil alle Macht ja auch alle Verantwortung bedeuten würde. Aber es hat eine solche Überlegung einmal gegeben. Ich erinnere mich an ein berühmtes Interview mit dem Philosophen Herbert Marcuse im „Spiegel“, in dem er gefragt wurde, ob es nicht besser wäre, dass Wissenschaftler die Politik übernehmen, weil Politiker das nicht können. Dafür gab es damals wie heute Anlässe. Und Marcuse hat tatsächlich gesagt, dass die Fähigkeit, die Wahrheit zu erkennen und sich dazu zu bekennen, eine wesentliche Voraussetzung ist, um richtig zu handeln. Diese Einschätzung ist im Licht der Corona-Pandemie sehr aktuell. Seit gut einem Jahr umgibt sich die Politik, angeführt von der Bundeskanzlerin, mit Wissenschaftlerinnen, um ihre Entscheidungen zu unterlegen. Man könnte sagen, dass mit dieser Beratung der Auftrag der Wissenschaftler erfüllt sei, weil sie ja nicht gewählt und demokratisch legitimiert sind …

Außer der Wissenschaftlerin Angela Merkel. Die ist gewählt …

Sie ist ein gutes Beispiel für die Bedeutung von wissenschaftlichem Wissen und was man von ihm haben kann, wenn man Entscheidungen treffen muss. Grundsätzlich brauchen wir eine größere Nähe zwischen politischen Entscheidungen und wissenschaftlichem Wissen. Natürlich sind da subjektive Elemente dabei, etwa bei der Frage, welche Wissenschaftlerinnen von Politikerinnen angehört werden und welche nicht. Diese Verantwortung liegt voll aufseiten der Politik. Ich bin der Auffassung, dass wir die beiden Sphären mit einer höheren Verbindlichkeit zueinander bringen müssen. Ein Risiko dabei ist natürlich, dass die nicht uneitlen Wissenschaftler dazu neigen könnten, in solch einem Prozess irgendwann zu jeder Entscheidung gehört werden zu wollen. Das geht nicht. Also: Wir brauchen eine größere Nähe, deren Grad aber die Politik bestimmt. Und die könnte man auch dazu verpflichten, gut zu begründen, wenn sie einem wissenschaftlichen Rat einmal nicht folgen sollte.

Eine Ausrede? "Wir haben nur auf den Rat der Wissenschaftler gehört"

In der Pandemie haben wir eine Situation immer wieder erlebt, die mich geärgert hat. Politiker und Wissenschaftler trafen sich und haben gesprochen. Danach haben die Wissenschaftler gesagt: Wir können nur beraten, entscheiden muss die Politik. Und die Politiker haben in der Regel gesagt: Wir haben nur auf den Rat der Wissenschaftler gehört. Soll heißen: Der eine hat die Verantwortung immer gut auf den anderen schieben können. Das fand ich unbefriedigend.

Ich teile Ihre Auffassung. Sie unterlegt das, was ich eben gesagt habe. Wenn man die beiden Systeme näher aneinanderbringt, bedarf die Auswahl der Wissenschaftler, die Politiker beraten, selbst einer demokratischen Legitimierung – sonst bestünde die Gefahr, dass Politik die Experten aussucht, deren Einschätzungen ihr genehm sind. Ein Vorwurf, den es ja übrigens bei einer Runde der Bundeskanzlerin im Januar bereits gegeben hat. Man muss sicherstellen, dass bei Beratungen unterschiedliche Einschätzungen gehört werden können. Dafür sind übrigens auch die Wissenschaftler verantwortlich, die nicht nur ihre eigene Meinung, sondern das gesamte Spek­trum der Erkenntnisse in ihrem Fachbereich referieren müssen. Ich will jetzt keine Namen aus dem breiten Bereich der Virologie nennen. Aber wenn ich mir das vergangene Jahr so anschaue, erkenne ich zwei Phänomene: Das eine ist ein sehr häufiges Ändern der Meinung bei derselben Person, das andere ist ein Drang, durch Äußerungen auf Entwicklungen Einfluss zu nehmen, für die man nur begrenzt Verantwortung hat. Deshalb muss es sowohl eine Demokratisierung als auch eine Politisierung der wissenschaftlichen Berater geben.

Was Karl Lauterbach predigt

Wissenschaftler sagen ja nicht nur etwas im direkten Gespräch mit Politikern, sondern, und vor allem, in Talksendungen und Interviews. Und dort haben sie ihre neu gewonnene Macht und Popularität voll ausgenutzt. Ein Beispiel ist für mich Karl Lauterbach, der immer predigt, dass wir unsere Kontakte maximal reduzieren müssen, selbst aber jeden Tag etliche Journalisten trifft und regelmäßig in den großen Gesprächsrunden im Fernsehen sitzt.

Dafür sind die Aussagen von Karl Lauterbach, soweit ich das beobachte, konsistent. Grundsätzlich kann es verschiedene Motive dafür geben, dass Wissenschaftler sich stark in der Öffentlichkeit äußern – oder, so wie Christian Drosten, sich langsam wieder daraus zurückziehen. Ein anderer Punkt: Weil die Medien nicht immer dieselben Gesichter zeigen können, kommen plötzlich Experten an die Bildoberfläche, über deren Erscheinen man erstaunt ist. Mir fällt eine Person ein, die sehr präsent ist, über die andere Virologen sagen, dass sie kaum in diesem Bereich geforscht hat. Das ist natürlich schwierig.

Ich glaube, es war und ist eher schwierig, dass in den Talkrunden im Fernsehen zu Corona immer dieselben Menschen sitzen. Wenn man als Medium da nicht andere Experten hinzunimmt, kann einem zu Recht Einseitigkeit vorgeworfen werden.

Bei der Auswahl der Gäste in Talksendungen spielt ja leider auch eine Rolle, wer bereit ist, steile Thesen vorzutragen. Das muss nicht immer die Person sein, die sich mit dem Thema tatsächlich am besten auskennt. Und ein Wissenschaftler, der sich ausgewogen und abwartend äußert, wird dann beim nächsten Mal einfach nicht wieder eingeladen.

Im Video: Die WHO-Kommission in Wuhan

"Nüchterne Kommunikation ist mir lieber"

Wenn wir über die Macht der Wissenschaft sprechen, stellt sich automatisch die Frage, ob Wissenschaftler denn die besseren Politiker wären. Bei Angela Merkel scheint das so zu sein, sonst wäre sie nicht so lange Bundeskanzlerin. Ich will ein Argument gegen Wissenschaftlerinnen als Politikerinnen bringen, das man bei Frau Merkel auch gut erkennen konnte: Eben weil sie der Wahrheit und den nüchternen Fakten so verpflichtet sind, haben Wissenschaftlerinnen öfter ein Problem mit der Empathie. Ich habe gemerkt, wie sehr mir die Gefühle in der deutschen Politik gefehlt haben, als ich Armin Laschet beim CDU-Parteitag erlebt und gedacht habe: Guck mal, da will ein ganz normaler Mensch Vorsitzender der CDU werden.

Mir ist lieber, wenn jemand nüchtern kommuniziert, als wenn er den empathischen Mitmenschen spielt.

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Er soll es nicht spielen, er soll es sein. Angela Merkel hätte deutlich mehr Mitgefühl und Verständnis für die Familien zeigen, auch mal eine Rede an die Kinder halten können, die unter der Pandemie so sehr leiden. Das hat mir alles komplett gefehlt.

Wenn Angela Merkel dies machen würde, würde ich sage, dass eine Showberatung stattgefunden hat. Das würde überhaupt nicht zu ihr passen. Ich möchte einen anderen Aspekt ansprechen, der die Kongruenz von Wissenschaft und Politik schwer macht. Wenn Sie Wissenschaftler sind, dürfen Sie keine Schnellschüsse machen, Sie müssen abwarten können. Entscheidungen unter Informationsdefizit sind gefährlich. Aber es gibt natürlich ständig Lagen, in denen man schnell entscheiden muss. Das ist ein Dilemma. Und noch ein Wort zu Armin Laschet: Die Emphase nehme ich ihm nicht ab. Der ist einfach eine rheinische Frohnatur. Ich würde bezweifeln, dass sein politisches Handeln dieser Emphase folgt, Letztere wäre entsprechend nur Show.

Aber ist das nicht nur ein Vorurteil eines Wissenschaftlers, der nicht an Gefühle, sondern an Fakten glaubt?

Letztlich suchen wir nach einer politischen Lichtgestalt, die beides, überlegtes Handeln und Empathie, zur richtigen Zeit aktivieren kann. Mir ist eine nüchtern analysierende Person, die die eigene Fehlerquote minimiert, lieber als jemand, der, wie im Fall Laschet, ständig zwischen Entscheidungen hin und her springt, immer schielend auf die dominante Meinung in der Bevölkerung. Da ist mir eine prinzipienorientierte, aufgeklärte und vernünftige Wissenschaftlerin schon näher. Vielleicht wird Frau Merkel am Ende ja doch noch mal gefragt, ob sie nicht Kanzlerin bleiben will.

Glauben Sie das wirklich?

Das ist halb ernst gemeint. Aber ich spreche mit vielen, die sagen, dass es in dieser Situation besser wäre, an ihr festzuhalten, weil man ja nicht weiß, was und wer nach ihr kommt.

"Im politischen Geschäft ist die Resonanz sofort da – verführerisch"

Wobei es ja falsch ist, so zu tun, als würde Angela Merkel ihre Politik nicht an Meinungsumfragen orientieren – sie sind ein wesentlicher Bestandteil ihrer Arbeit in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten gewesen.

Es ist ja nicht anstößig, wissen zu wollen, was die Meinung der Bevölkerung ist. Man muss sich ja nicht danach richten, wenn man einen anderen Weg für besser hält.

Haben Wissenschaftler denn überhaupt Interesse, stärker in die Politik zu gehen? Viele der Experten, die durch Corona ans Licht der Öffentlichkeit gekommen sind, sagen, dass sie froh seien, wenn sie irgendwann wieder in Ruhe forschen und arbeiten könnten.

Das ist richtig. Aber es gibt eine überschaubare Anzahl an Fächern, bei denen es wichtig ist zu erfahren, ob das angehäufte Wissen die Wirklichkeit beeinflussen kann. Das ist ja auch die Verantwortung, die wir als Wissenschaftler haben, wir machen das ja nicht im luftleeren Raum. Ob deswegen der Wissenschaftler auch der bessere Politiker ist, hängt sicher von der einzelnen Persönlichkeit ab. Gerade das Beispiel des Hamburger Bürgermeisters Peter Tschentscher zeigt ja, dass man damit nicht falsch liegt: Er ist kompetent und gleichzeitig glaubwürdig.

Kommen wir zum Ende vielleicht noch zur Frage der Eitelkeit. Heide Simonis, erste Ministerpräsidentin in Deutschland, hat einmal gesagt, dass Eitelkeit eine Grundbedingung für politisches Handeln sei. Wie eitel sind Wissenschaftler? Sind sie eitel genug, um Politik zu machen?

Ja, das glaube ich schon, und zwar aus einem einfachen Grund: Die Resonanz, die Wissenschaftler in ihrem Bereich auf ihre Arbeit erfahren, ist normalerweise gering. Im politischen Geschäft ist die Resonanz sofort da. Es ist verführerisch, diese Erfahrung machen zu wollen.