Winsen/Lüneburg. Deutsches Ärzteorchester ist selten live zu hören. Das liegt am Job der Mitglieder: Sie sind praktizierende Mediziner. Was treibt sie an?
Allein die Anfahrt ist ein kleines Erlebnis. Sie führt vorbei an einem Golfplatz und durch 30er-Zonen, über schmale Straßen und Serpentinen auf eine Anhöhe. Hier liegt in malerischer Umgebung das CVJM Tagungs- und Gästehaus Sunderhof. Selbst das Internet ist hier bei Emmelndorf in der Gemeinde Seevetal schwach. Perfekt für die konzentrierte Vorbereitung auf zwei große Auftritte.
Deutsches Ärzteorchester: Orthopäde aus Winsen ist der Lokalmatador am Cello
Genau aus diesem Grund hat sich das Deutsche Ärzteorchester für eine Woche in dem Hotel einquartiert. Etwa 70 Mediziner aus ganz Deutschland proben hier – zunächst in kleinen Gruppen, später dann in voller Orchesterstärke – ihr Zusammenspiel. Zu genießen ist das Ergebnis bei zwei Benefizkonzerten in den kommenden Tagen: am Freitag, 1. November, um 19 Uhr in der Stadthalle Winsen sowie am Sonnabend, 2. November, um 18 Uhr in der St.-Johannis-Kirche in Lüneburg.
So etwas wie der Lokalmatador ist ein niedergelassener Orthopäde aus Winsen. Dr. Eckart Reichle spielt seit mehr als 20 Jahren Cello im Deutschen Ärzteorchester, bei ihm laufen in diesen Tagen viele organisatorische Fäden zusammen. So hat er die Unterkunft mit Probenräumen organisiert – gar nicht einfach für 70 Personen – und seine Kontakte in Winsen und Umgebung genutzt, um Konzertsäle und Spendenempfänger ausfindig zu machen.
Gemeinschaftspraxis mit Matthias Kunth für Orthopädie und Unfallchirurgie
An der Luhdorfer Straße in Winsen betreibt Dr. Reichle gemeinsam mit Matthias Kunth die Praxis LOU (Luhe Orthopädie und Unfallchirurgie). Ruft man in der Praxis an, bekommt man zu hören: „Dr. Reichle ist in dieser Woche auf Probenwoche.“ Die Mitarbeiterinnen kennen dieses Prozedere. Mindestens einmal pro Jahr gönnt sich einer der beiden Chefs diese musikalische Auszeit. Das Deutsche Ärzteorchester kommt bis zu viermal jährlich zusammen, um im Anschluss zwei, manchmal auch drei Benefizkonzerte zu spielen.
„Beruflich konnte ich das während meiner Zeit als Klinikarzt besser einrichten, als wenn ich jede Woche zur Probe fahren müsste“, erzählt Dr. Eckart Reichle. Der heute 67-Jährige spielt seit seinem achten Lebensjahr Cello. Er stammt ursprünglich aus Tübingen, war bereits als 14-Jähriger im Studenten-Orchester, zwei Jahre später im Universitäts-Orchester. „Musik habe ich nie studiert“, erzählt der Luhdorfer. Das hielt ihn nicht davon ab, sich kurz nach der Jahrtausendwende beim Deutschen Ärzteorchester vorzustellen.
„Du spieltest Cello“: Vorspielen oder sich bewerben musste Eckart Reichle nicht
„Ich hatte zufällig davon gehört und bin zu einem der nächsten Treffen hingegangen“, so Reichle. Sich bewerben oder Vorspielen musste er nicht. 2003 war etwa die Zeit, zu der auch der heute noch aktive künstlerische Leiter und Chefdirigent Alexander Mottok den Taktstock übernahm. Zu den weiteren Engagements des studierten Chor- und Orchesterleiters sowie Geigers gehört seit 1999 auch das Dirigat des Stader Kammerorchesters.
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Das Deutsche Ärzteorchester (DÄO) wurde 1989 von Dr. Dieter Pöller in München gegründet. Mittlerweile musizieren etwa 140 Ärztinnen und Ärzte unterschiedlichster Fachrichtungen, Angehörige medizinnaher Berufe aus Pharmazie, Pflege, Physiotherapie und Medizintechnik sowie Medizinstudenten gemeinsam. Sie stammen aus ganz Deutschland, Männer und Frauen machen jeweils rund die Hälfte aus.
Im Orchester sind auch Angehörige medizinnaher Berufe und Medizinstudenten
Alle gleichzeitig haben natürlich nie Zeit. Daher trifft sich ungefähr die halbe Stammbesetzung an wechselnden Orten drei- bis viermal pro Jahr zu intensiven Probenphasen. Daneben finden kammermusikalische Aktivitäten statt. Die Mitglieder verstehen die Musik als Gegenpol zum täglichen Umgang mit Krankheiten.
So ergeht es auch Dr. Eckart Reichle. „Wenn ich am Cello sitze, bekomme ich alles andere raus aus dem Kopf. Dann bin ich nur noch in der Musik“, erzählt der musikalische Orthopäde und Unfallchirurg. „Manchmal reicht es schon, wenn ich im Auto nach Hamburg sitze.“
Ärzte verstehen Musik als Gegenpol zum täglichen Umgang mit Krankheiten
Reichle ist gleichzeitig Mitglied im Hamburger Ärzteorchester, das sich einmal wöchentlich zur Probe trifft. Einmal habe er sich während einer Probenwoche eine schmerzhafte Verletzung des Sprunggelenks zugezogen. „Bei der Musik habe ich nichts davon gespürt, da waren alle Schmerzen weg!“
Was macht die Faszination des Deutschen Ärzteorchesters aus? Für den Winsener sind es die musikalische Qualität und die persönlichen Begegnungen. „Für ein Amateur-Orchester bieten wir wirklich gute Qualität“, sagt der Cello-Spieler, der wöchentlich an bis zu fünf Tagen nach der Arbeit am Instrument übt.
„In all den Jahren sind sehr gute Bekanntschaften, zum Teil Freundschaften entstanden“
Es sei immer ein großes Hallo, wenn sich das Orchester nach einigen Monaten Pause wiedertreffe. „Alles Menschen, mit denen ich gern am Tisch sitze. Im Laufe der Jahre sind sehr gute Bekanntschaften, zum Teil auch wirkliche Freundschaften entstanden“, erzählt Reichle.
Bevor sich Dr. Reichle 2018 mit der „LOU Gemeinschaftspraxis“ selbstständig machte, war er lange Jahre Oberarzt am AK St. Georg und zuletzt Medizinischer Leiter des Asklepios Gesundheitszentrums Seevetal. Weitere Hobbys: In seiner Freizeit engagiert er sich als Trainer in der Schützenkameradschaft Luhdorf-Roydorf, fährt Fahrrad, geht Wandern und ist mit dem Wohnmobil in Deutschland und Europa unterwegs.
Deutsches Ärzteorchester spielt Brahms, Schumann und Tschaikowski
Bei den Konzerten in Winsen und Lüneburg spielt das Deutsche Ärzteorchester das gleiche Programm: die Tragische Ouvertüre d-Moll von Johannes Brahms, das Violinkonzert d-Moll von Robert Schumann und die Sinfonie Nr. 4 f-Moll von Pjotr Tschaikowski. Als Solist an beiden Abenden auf der Bühne steht Philipp Bohnen (Violine).
Das Konzert in der Winsener Stadthalle ist mit 550 Besuchern ausverkauft. Für Sonnabend in Lüneburg – der Erlös geht an die Deutsche Stiftung Denkmalschutz für den Erhalt der Orgel der St.-Johannis-Kirche – gibt es noch Tickets zu Preisen zwischen 12 und 42 Euro bei www.reservix.de.
Deutsches Ärzteorchester: 10.000 Euro für Palliativstation am Krankenhaus Winsen
Der Auftritt in Winsen ist ein Benefizkonzert zugunsten der Palliativstation des Krankenhauses Winsen. „Mit dem Geld möchten wir gezielt Mitarbeiter auf der Station fördern, die nicht kassenfinanziert sind. Auch diese Ehrenamtlichen begleiten schwer kranke Patienten auf ihrem letzten Weg“, erklärt Dr. Eckart Reichle.
Auch dank der großzügigen Unterstützung von Rotary Club, Krankenhaus, Stadt Winsen, Kulturverein, Stadtwerke Winsen und vieler Weiterer dürfte eine Spendensumme von 10.000 Euro übergeben werden können.