Altes Land. Nach einem schweren Motorradunfall suchte Volkmar Dinglinger nach dem Sinn des Lebens. Er fand ihn am denkbar ungewöhnlichsten Ort.
Ein schlimmer Motorradunfall. Kampf ums Überleben. Allein im Straßengraben. Über Stunden, bei Nacht. Schwerverletzt, aber bei Bewusstsein. Bis er endlich entdeckt wurde und Rettung kam. „Wirbelbruch“, sagten die Ärzte. Und: „Es war sehr knapp. Sie haben einen Schutzengel gehabt.“ Es folgte eine lange Zeit im Krankenhaus. Zum zweiten Mal Laufen lernen. Und dann die Rückkehr in den Alltag und die Erkenntnis: „Ab jetzt will ich etwas machen, das Spaß macht!“
Motorradunfall veränderte das Leben - zum Positiven
Es war dieses Unglück vor fünf Jahren, das Volkmar Dinglinger vor Augen führte, wie kurz das Leben sein kann. Zu kurz, um jeden Tag etwas zu tun, das man eigentlich nicht mag. Das wollte er ändern. Und so wurde aus dem gelernten Brennmeister, der inzwischen im industriellen Anlagenbau arbeitete, ein Müller. Ein Windmüller.
Für diese Neuorientierung suchte sich Volkmar Dinglinger eine besondere Mühle aus. Oder sie ihn? Die 1848 erbaute Twielenflether Windmühle - ein Bau- und Kultur-Denkmal im Alten Land und die letzte Windmühle im Elbe-Weser-Raum, die noch gewerblich genutzt wird - brauchte einen neuen Betreiber.
Mühlenbesitzer Hein Noodt unterstützt den Quereinsteiger
Am 1. Januar 2020 wurde Dinglinger Pächter der „Venti Amica“. Müller-Urgestein und Mühlenbesitzer Hein Noodt legte seine „Freundin des Windes“, seit über 170 Jahren in Familienbesitz, sowie seinen Mühlenbetrieb in Dinglingers Hände. Jedenfalls offiziell und soweit dies dem Altländer Original überhaupt möglich war. Denn der 77-Jährige kommt bis heute jeden Tag in die Mühle, um den neuen Pächter tatkräftig zu unterstützen. Hein Noodt feierte am 1. Juni sein 65-jähriges Arbeitsjubiläum.
Gegensätze ziehen sich an: Zwei Müller – ein Ziel
Die beiden Müller könnten kaum unterschiedlicher sein. Dinglinger ist groß und kräftig, Noodt eher klein und drahtig. Der eine ist Müller in fünfter Generation, der andere ein Quereinsteiger. Noodt mag es nicht, in der Öffentlichkeit zu stehen und wenn er etwas sagt, kann das ziemlich unwirsch klingen. Dinglinger ist kommunikativ und in sozialen Netzwerken unterwegs. Er führte einen Onlineshop für den Mühlenbetrieb in Hollern-Twielenfleth ein. „Hein hat nur mit dem Kopf geschüttelt“, erinnert sich Dinglinger und lacht. In der Mühle steht noch ein staubiges Telefon mit Wählscheibe. Reicht doch.
Mühlenbetrieb soll unbedingt erhalten werden
Volkmar Dinglinger hat größten Respekt vor dem 77-jährigen Noodt: „Hein ist im Ort hoch angesehen“, sagt er mit Bewunderung für den alten Windmüller. Er selbst ist dagegen auch nach 15 Jahren im Alten Land für manche noch ein „Zugezogener“ – wenn auch ein akzeptierter und geschätzter. Die Unterschiede zwischen den beiden Männer sind groß. Und doch eint sie ein gemeinsame Ziel: Sie wollen die einzige betriebsfähige Windmühle im Alten Land unbedingt erhalten. „Das ist schließlich Heins Lebenswerk“, sagt Volkmar Dinglinger. „Es ist sein Verdienst, dass es dieses Unikum noch gibt.“
Geschichte der Mühle reicht bis ins 14. Jahrhundert zurück
Und so haben sich die beiden Müller zusammengetan, um den Traditionsbetrieb fortzuführen, dessen Geschichte bis ins 14. Jahrhundert zurückreicht. Der eine bringt das Know-how aus sechs Jahrzehnten mit, der andere Wissbegierde, Lernfähigkeit und – Dankbarkeit. Dafür, dass Hein Noodt ihm alles zeigt und dafür, dass er sich mit ihm so gut versteht. „Ich kann ja längst noch nicht alles“, sagt Volkmar Dinglinger.
Mühle bietet schönen Blick ins Alte Land und zur Elbe
Sein Arbeitsplatz in der prächtigen, 24 Meter hohen Windmühle bietet von der Galerie aus wohl einen der schönsten Ausblicke aufs Alten Land – über Obstplantagen bis hinüber zum Deich und zur nahegelegenen Elbe. „Das ist kein Job hier“, sagt Volkmar Dinglinger. „Das ist eine Aufgabe.“ Es sei eine Freude, mit der alten Technik zu arbeiten. Zu sehen, wie sich die Flügel der alten Mühlen drehen, wenn der Wind bläst. Wie sich die komplizierte Mechanik knarrend in Gang setzt und ein Rädchen ins andere greift.
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„Ich kann mir nicht mehr vorstellen, den ganzen Tag im Büro zu sitzen“, sagt der Mühlenpächter. Er packt einen Sack Mehl und hievt ihn auf einen ziemlich hohen Stapel – fast so, als wäre es nur ein Kilopaket. Dinglinger lässt seinen Blick über die vielen Mehlsäcke gleiten: „Wenn ich abends sehe, was wir geschafft haben, dann ist das sehr, sehr befriedigend“, meint er.
Laden des Mühlenbetriebs bietet Einkaufen wie früher
Die Arbeit in der Mühle ist vielseitig. Das Mahlen von Getreide steht zwar im Mittelpunkt, doch es kommen viele weitere Aufgaben hinzu. Der Mühlenbetrieb Hein Noodt beliefert Bäckereien, Hofläden und Privatleute und betreibt zudem einen Laden in der Mühle, der montags bis freitags ab 14 Uhr und am Sonnabend ab 9 Uhr geöffnet ist. Im Laden werden verschiedenen Sorten vom selbstproduzierten Mehl und Schrot angeboten, es gibt Kerne, Körner, Flocken, Müsli, Honig und Tierfutter. Sehr beliebt sind auch die Backmischungen nach Rezepten von Hein Noodt sowie der Sauerteig, der seit Corona schwer in Mode gekommen ist.
Touristen im Alten Land lieben die Windmühle
Außerdem muss die Mühle gepflegt und die Technik gewartet werden. Und die „Venti Amica“ ist ein Touristenmagnet und Ausflugsziel. Fast täglich kommen Besucher und möchten etwas über die Windmühle erfahren. Nach Anmeldung werden daher regelmäßig Führungen angeboten.
Volkmar Dinglinger macht das alles Spaß. So wie er es gehofft hatte, damals nach dem Unfall. „Das Ding hier am Laufen zu halten – das macht Sinn“, sagt der Müller. Er hat nach schwierigen Zeiten seinem Leben einen neuen Dreh gegeben und sein Glück in einer alten Mühle wiedergefunden. Fast wie in einem chinesischen Sprichwort: „Wenn der Wind des Wandels weht, bauen die einen Mauern und die anderen Windmühlen.“