Landkreise Harburg/Stade. Bambi in Not: Mit Drohnen gehen Ehrenamtliche mitten in der Nacht auf Suche nach Rehkitzen, um sie vor dem drohenden Tod zu retten.

Im Moment bekommt Janine Böhnke nicht viel Schlaf. Solange das Wetter mitspielt, muss die Initiatorin der Rehkitz- und Wildtiersuche des Hegerings Tostedt jede Nacht mit einem Einsatz rechnen. Die berufstätige zweifache Mutter ist der Kopf der Initiative, die 2018 gegründet wurde und seither in dem Gebiet rund um ihren Heimatort schon mehr als 280 Rehkitze gerettet hat.

Doch auch, wenn die Augenringe der 42-Jährigen und ihrer Mitstreiter zurzeit etwas dunkler sind – die Gesichter der Helferinnen und Helfer hellen sich spätestens dann auf, wenn sie am frühen Morgen wieder einmal ein Rehkitz aus einer Wiese tragen können, die tagsüber gemäht werden soll.

Vor der Mahd muss die Fläche abgesucht werden, damit Kitze und andere Wildtiere kein Opfer der Mäharbeiten werden.
Vor der Mahd muss die Fläche abgesucht werden, damit Kitze und andere Wildtiere kein Opfer der Mäharbeiten werden. © HA | Sabine Lepél

Erntetechnik bringt Rehkitzen den Tod

In der Brut- und Setzzeit der Wildtiere werden die Wiesen zu Kinderstuben. In diese Zeit fällt auch der erste Gras-Schnitt der Grünflächen. Gerade im schützenden Bewuchs der Wiesen ziehen die Wildtiere ihren Nachwuchs auf. Neben Rehkitzen finden die Retter oft auch Feldhasen oder Vogelgelege. Sie haben aber auch schon einen Jungkranich und ein Damwild-Kalb in Sicherheit gebracht.

Den Kitzen ist das Verhalten „Tarnen und Wegducken“ angeboren, das die Jungtiere normalerweise vor Feinden schützt. Es rettet das junge Wild aber nicht vor der Erntetechnik. So sind insbesondere Rehkitze und Junghasen gefährdet, Opfer von Mäharbeiten zu werden, da sie im hohen Gras unentdeckt bleiben.

Spätestens um vier Uhr morgens sind die Retter der Rehkitze im Einsatz

Weil sich die Jungtiere im hohen Gras ducken, sind sie auch von den Landwirten beim Grasmähen nur sehr schwer zu erkennen. „Wir haben jetzt Hochsaison und sind quasi im Dauereinsatz“, sagt Janine Böhnke. Von Anfang/Mitte Mai bis Mitte Juni erleben die ehrenamtlichen Kitzretter sechs harte Wochen, an denen sie spätestens zwischen drei und vier Uhr aufstehen, um vor der Arbeit die Wiesen mit einer Drohne abzufliegen oder sie zu Fuß vorsichtig abzulaufen.

Dieses Kitz im Gras hat Janine Böhnke von der Rehkitz- und Wildtiersuche des Hegerings Tostedt bei einer Rettungsaktion fotografiert.
Dieses Kitz im Gras hat Janine Böhnke von der Rehkitz- und Wildtiersuche des Hegerings Tostedt bei einer Rettungsaktion fotografiert. © Unbekannt | Janine Böhnke / HA

Die Einsätze zur nachtschlafenden Zeit sind nötig, weil der Temperaturunterschied zwischen Boden und Lebewesen dann am größten ist und von der an der Drohne befestigten Wärmebildkamera am deutlichsten dargestellt wird. Da eine Rettungsaktion unter Drohnen-Einsatz weit mehr Erfolg verspricht als das Absuchen zu Fuß, wird die Wildtiersuche oft nur noch mit dieser technischen Unterstützung durchgeführt.

„Der falsche Umgang mit ihnen bedeutet für sie der Tod.“

„Es sind immer ein Drohnen-Pilot, ein Co-Pilot und mindestens zwei bis vier Helfer vor Ort“, sagt Janine Böhnke. Der Pilot steuert die Drohne, der Co-Pilot kommuniziert mit dem „Bodenpersonal“ und unterstützt bei Akkuwechseln und ähnlichen Tätigkeiten. Das Bodenpersonal geht potenzielle Fundstellen ab, sichert Kitze und kämmt Bereiche durch, in denen die Drohne etwa aufgrund von Baumkronen nicht gut „sehen“ kann.

Sobald ein Tier geortet wird, werden die Helfer per Funkgerät dorthin gelotst. „Wir tragen große Handschuhe mit Stulpen und Gras, um den natürlichen Geruch des Kitzes zu erhalten“, sagt Böhnke. Das sei ein wichtiger Aspekt, denn andernfalls würde die Mutter das Kitz ablehnen und es müsste verhungern. „Deshalb sollte auch niemand eine Kitzrettung auf eigene Faust durchführen“, sagt sie. „Das sind ja keine Bambis, sondern zu schützende Wildtiere. Der falsche Umgang mit ihnen bedeutet für sie der Tod.“

Die Rehkitz-Retter freuen sich über Spenden

Die Kitzretter wissen, was sie tun. Das gerettete Kitz wird im Schatten am Rand der Wiese abgelegt und mit einem Wäschekorb gesichert. Wenn die Mäharbeiten abgeschlossen sind, wird es wieder befreit. „Sobald Ruhe in der Nähe der Kitze einkehrt, fängt das Kitz an zu fiepen. Und meistens wartet die Ricke dann auch schon ganz in der Nähe und holt es schnell ab“, ist Böhnkes Erfahrung. Für die Bauern ist der Einsatz der Ehrenamtlichen kostenlos. „Wir freuen uns aber über eine Kanne Kaffee am Feldrand und immer über Spenden“, sagt Böhnke.

Das gerettete Kitz wird am Rand der Wiese abgelegt und mit einem Wäschekorb gesichert. 
Das gerettete Kitz wird am Rand der Wiese abgelegt und mit einem Wäschekorb gesichert.  © HA | Jägerschaft LK Stade

Der Einsatz hat auch einen gesetzlichen Hintergrund: „Wer die Flächen bewirtschaftet, unterliegt vor dem Mähen einer Vorsorgepflicht, da das Verletzen oder Töten von Wildtieren ohne den Nachweis der Vorsorge bei Mäharbeiten kein Kavaliersdelikt ist und bei Anzeige strafrechtlich verfolgt wird“, weiß Julia Seefried, Pressesprecherin der Jägerschaft im Landkreis Stade, in dem seit Wochen ebenfalls viele ehrenamtliche Kitzretter unterwegs sind.

8000 Euro kostet eine Drohne im Ganzen

Die Tostedter Initiative verfügt – auch aufgrund von ein paar Großspenden – mittlerweile über drei Drohnen. Lediglich die Drohne wird vom Landwirtschaftsministerium mit rund 60 Prozent der Anschaffungskosten gefördert. Akkus, Funkgeräte und der externe Bildschirm sind davon ausgenommen. Insgesamt kostet die gesamte Ausrüstung für eine Drohne rund 8000 Euro – viel Geld für eine kleine ehrenamtliche Initiative, die sich deshalb immer über Unterstützung freut.

„Wir alle erleben es als Vorrecht, zu dieser Uhrzeit in der Natur sein zu dürfen“

Jeder Einsatz ist für alle Helfer ein einzigartiges Erlebnis. „Ich erlebe die Stimmung als wirklich sehr besonders. Alle Helfer haben sich zu Unzeiten aus dem Bett geschält, um sich dann mit allen Sinnen in die Natur zu stürzen“, berichtet Janine Böhnke. „Wenn wir uns treffen, ist es zu Beginn der Saison noch völlig dunkel. Dann packen wir alles zusammen, sortieren Drohnen und Funkgeräte und teilen uns auf.“

„Das sind ja keine Bambis, sondern zu schützende Wildtiere. Der falsche Umgang mit ihnen bedeutet für sie der Tod.“ 
„Das sind ja keine Bambis, sondern zu schützende Wildtiere. Der falsche Umgang mit ihnen bedeutet für sie der Tod.“  © HA | Andreas Bluemel

Bald beginnen die ersten Vögel zu zwitschern und die Sonne geht auf. „Wir alle erleben es als Vorrecht, zu dieser Uhrzeit in der Natur sein zu dürfen und unseren Wildtieren eine Art Hilfestellung zu geben“, sagt Böhnke. Werde ein Kitz gefunden und sei sicher verstaut, seien alle ganz beschwingt, erzählt die Kitzretterin: „Das ist das Sahnehäubchen. Es macht mich immer wieder sehr dankbar und demütig.“ Dafür verzichtet die zweifache Mutter gern temporär auf ausreichend Schlaf.

Über 800 Kitze wurden in den letzten Wochen dank Drohneneinsatz gerettet

Auch unter dem Dach der Jägerschaft im Landkreis Stade sind seit Wochen wieder viele ehrenamtliche Teams nahezu im gesamten Kreisgebiet unterwegs, um Jungtiere vor dem frühen Tod durch die Mähwerke zu bewahren – mit schier unglaublichem Erfolg: „Eine Erhebung der Jägerschaft des Landkreises Stade hat ergeben, dass durch den Einsatz von Drohnen allein in den letzten Wochen über 800 Kitze gefunden und gerettet werden konnten“, sagt Pressesprecherin Julia Seefried.

Die Kitzretter tragen Handschuhe und Gras, um den natürlichen Geruch des Kitzes zu erhalten. 
Die Kitzretter tragen Handschuhe und Gras, um den natürlichen Geruch des Kitzes zu erhalten.  © HA | Jägerschaft LK Stade

Dabei handele es sich jeweils um Einzelrettungen: „Wir können natürlich nicht ausschließen, dass es Doppelzählungen gibt, wenn zum Beispiel ein gerettetes Kitz am nächsten Tag in der Nachbarwiese liegt, die dann abgesucht wird“, so Seefried. Aufgrund von geschätzten Vorjahreswerten sei aber eine Erfolgssteigerung von 20 bis 30 Prozent zum Vorjahr über den gesamten Landkreis Stade anzunehmen. Auch dort kommt bei den Rettungsaktionen längst moderne Technik zum Einsatz. Die erste Drohne wurde bereits vor vielen Jahren durch die Stader Jägerschaft angeschafft, seitdem sind viele Jäger und andere Ehrenamtliche diesem Beispiel gefolgt.

Verwaiste Kitze mittels Drohne gefunden

Manchmal sind solche Einsätze aber auch traurig, wie das Erlebnis von Sönke Stöver vom Hegering Estetal und seiner Suchmannschaft belegt: Als vor Kurzem eine Ricke bei einem Verkehrsunfall in Moisburg getötet wurde und die herbeigerufene Jägerschaft anhand des Gesäuges feststellte, dass sie ein Kitz haben musste, kam Stövers Kitzrettungsgruppe mit Drohnenpilot Timo Junge zum Einsatz.

Ganz in der Nähe der Unfallstelle entdeckten sie zwei Kitze, die sie nach einer gewissen Beobachtungszeit bargen, versorgten und auf die Namen „Erna“ und „Irma“ tauften. Anschließend wurden die Geschwister der Wildtierstation am Westermoor in Rotenburg übergeben. Sönke Stöver übernahm die Patenschaft für die beiden. „Sie wachsen prächtig heran“, sagt er. Und so hat auch diese Geschichte noch ein kleines Happy End.