Ein Timoschenko-Vertrauter wird Übergangspräsident. Die Rechtsmäßigkeit der Wahl ist unklar. Russland legt Milliardenhilfen vorerst auf Eis. Merkel gratuliert Timoschenko, die nicht kandidieren will.
Kiew. Nach der Machtübernahme in der krisengeschüttelten Ukraine hat die bisherige Opposition den bisherigen Parlamentschef Alexander Turtschinow zum Übergangspräsidenten bestimmt. Die Rechtmäßigkeit der Wahl ist unklar. Präsident Viktor Janukowitsch hatte erklärt, die Parlamentsentscheidungen der vergangenen Tage seien illegal.
Die Oberste Rada hatte Turtschinow mit überwältigender Mehrheit gewählt. Dieser ist ein Verbündeter der Oppositionsführerin Julia Timoschenko, die am Sonnabend aus der Haft entlassen worden war. Nach einer emotionalen Rede vor mehr als 100.000 Menschen auf dem Unabhängigkeitsplatz Maidan erntete sie viel Beifall. Sie saß dabei im Rollstuhl. Timoschenko war bisher zweimal Ministerpräsidentin der Ex-Sowjetrepublik.
Das Parlament wählt frühestens am Montag, spätestens am Dienstag, einen neuen Regierungschef. Die Oberste Rada vertagte sich am Sonntag, ohne über die wichtige Personalie zu entscheiden. Übergangspräsident Turtschinow forderte die Parlamentarier auf, sich spätestens bis zu diesem Dienstag auf eine Koalition und ein „Kabinett des nationalen Vertrauens“ zu einigen.
Zuvor wurde klar, dass Timoschenko sich nicht um das Amt der Ministerpräsidentin bewirbt. Das sagte Nikolai Tomenko von Timoschenkos Vaterlandspartei (Batkiwschtschina) in Kiew, wie lokale Medien berichteten. Das Parlament werde sich daher nicht mit dieser Personalie befassen.
Ukrainischer Übergangspräsident verspricht Westkurs
Der ukrainische Übergangspräsident Alexander Turtschinow hat einen Westkurs der Ex-Sowjetrepublik angekündigt und zugleich die Wichtigkeit der Beziehungen zum Nachbarn Russland betont. „Vorrang hat für uns, zum Kurs der Annäherung an Europa zurückzukehren“, sagte Turtschinow am Sonntag in einer Ansprache an die Nation. „Wir müssen in den Kreis der europäischen Länder zurückkehren.“ Zugleich sagte der Vertraute von Ex-Regierungschefin Julia Timoschenko, die Ukraine sei zu einem „neuen, gleichberechtigten und nachbarschaftlichen“ Verhältnis mit Russland bereit. Das Parlament hatte den 49-Jährigen am Vormittag zum vorläufigen Staatschef bestimmt.
Merkel gratuliert Timoschenko
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat nach Angaben aus Kiew Timoschenko zu ihrer Haftentlassung gratuliert. Merkel halte die Rückkehr der 53-Jährigen in die Politik für einen der wichtigsten Faktoren zur Stabilisierung der Lage in der Ex-Sowjetrepublik, teilte Timoschenkos Partei mit.
In dem Telefonat habe die Kanzlerin ihre Unterstützung bei Reformen in Aussicht gestellt. Zudem hätten die Politikerinnen ein baldiges Treffen vereinbart.
Wo sich der abgesetzte Staatschef Janukowitsch aufhält, ist weiter unklar. Auch sein Vertreter im Parlament, Juri Miroschnitschenko, betonte, er wisse es nicht.
In einem weiteren Antrag wollten die Parlamentarier später ein Verbot der bisher regierenden Partei der Regionen von Janukowitsch sowie der verbündeten Kommunisten diskutieren.
In Kiew war die Lage ruhig. Mit Patrouillen bewachte die Opposition weiter die Barrikaden am Maidan. Dort hatte Timoschenko am Vorabend an die Menschen appelliert, mit ihrem Kampf nicht nachzulassen. Erst Neuwahlen, die für den 25. Mai angesetzt sind, könnten den Machtwechsel abschließen.
64 festgenommene Demonstranten wieder frei
Der neue Innenminister Arsen Awakow teilte mit, er habe interne Ermittlungen wegen Amtsmissbrauchs gegen 30 Mitglieder seiner Behörde einleiten lassen. Dabei gehe es um ihre Rolle bei den blutigen Straßenkämpfen zwischen Sicherheitskräften und Regierungsgegnern in Kiew, bei denen mindestens 82 Menschen getötet worden waren.
64 festgenommene Demonstranten sind inzwischen wieder auf freiem Fuß. Drei weitere würden vermutlich nach Gerichtsentscheidungen an diesem Montag entlassen, sagte der kommissarische Innenminister Arsen Awakow im Parlament. Der Beauftragte für die Staatsanwaltschaft, Oleg Machnizki, kündigte an, alle Teilnehmer der blutigen Proteste in Kiew zu rehabilitieren und die Strafverfahren einzustellen. Es handele sich dabei nicht bloß um einen einfachen Straferlass.
Der Internationale Währungsfonds IWF zeigte sich bereit, das nahezu bankrotte Land zu unterstützen. „Wenn die ukrainischen Behörden sich an den IWF wenden, sei es mit der Bitte um Beratung, sei es wegen Diskussionen über finanzielle Hilfen, gekoppelt an Wirtschaftsreformen, stehen wir selbstverständlich bereit“, sagte IWF-Chefin Christine Lagarde in Sydney. Nötig seien aber legitimierte Gesprächspartner.
Auf frisches Geld aus Russland muss die Ukraine hingegen weiter warten. Der russische Finanzminister Anton Siluanow bekräftigte beim Treffen der G20-Finanzminister in Sydney einmal mehr, dass Moskau zunächst die Regierungsbildung abwarten wolle, bis es von Kremlchef Wladimir Putin zugesagte Milliardenhilfen weiter auszahle.
Janukowitsch hatte Ende November auf Druck Russlands ein historisches Abkommen mit der EU über engere Zusammenarbeit auf Eis gelegt – der Auslöser für die Proteste, die schließlich zu seinem Sturz führten.
EU steht für Finanzhilfe an die Ukraine bereit
Die Europäische Union hat dem Land mittlerweile Finanzhilfen in Aussicht gestellt. Die EU stehe für eine substanzielle finanzielle Unterstützung bereit, sobald es eine politische Lösung des Konflikts und eine neue Regierung gebe, sagte Wirtschaftskommissar Olli Rehn am Sonntag am Rande des G20-Finanzministertreffens in Sydney. Die neue Regierung müsse aber institutionelle und wirtschaftliche Reformen ernsthaft angehen. Zudem müsse die EU der Ukraine eine klare europäische Perspektive bieten. „Wir müssen den Herausforderungen dieses historischen Moments gerecht werden“, sagte Rehn.