Im ukrainischen Machtkampf reißt das Parlament die Kontrolle an sich. Präsident Janukowitsch verweigert den Rücktritt, aber er hat kaum noch Rückhalt. Timoschenko kommt aus der Haft und fordert Strafen nach dem Tod von Demonstranten.
Kiew. Die ukrainische Oppositionsführerin Julia Timoschenko ist nach ihrer Haftentlassung unter gewaltigem Jubel auf dem Maidan in Kiew empfangen worden. Vor mehr als 100.000 Menschen auf dem Unabhängigkeitsplatz (Maidan) rief die Ex-Regierungschefin zum weiteren Kampf gegen Präsident Viktor Janukowitsch auf. „Kämpft bis zum Ende!“, rief sie. „Wir müssen Janukowitsch und den Abschaum um ihn herum auf den Maidan bringen“, forderte sie mit sich überschlagender Stimme. Die gewaltige Menge im Zentrum der Hauptstadt empfing die 53-Jährige mit riesigem Beifall.
„Ihr müsst bleiben bis zum Ende, bis Politiker gewählt sind, die das Vertrauen verdienen. Wir müssen es vollenden. Ihr habt ein neues Land verdient. Erlaubt ihnen nicht, ein Land aufzubauen, das ihr nicht wollt“, sagte Timoschenko. Die in Haft an einem Rückenleiden erkrankte Politikerin saß auf der Bühne in einem Rollstuhl. „Ehre den Helden“, waren ihre ersten bewegten Worte. Die emotionale Rede rührte viele Menschen auf dem Platz zu Tränen. Auch Timoschenko selbst rang mit der Fassung.
Wie in einer Wahlrede warb Timoschenko um Vertrauen. „Ich werde die Garantin dafür sein, dass Euch niemand verrät und niemand Hinterzimmerabsprachen trifft“, sagte sie. Zuvor hatte sie bereits angekündigt, bei den nächsten Präsidentenwahlen antreten zu wollen. „Ihr seid die Kraft, die Garantie dafür, dass es keinen Weg zurück gibt. Ihr habt alles verändert – nicht die Diplomaten, nicht die Welt.“ Die Rede wurde live im Fernsehen übertragen.
Die Politikerin würdigte die mindestens 82 Toten der vergangenen Tage: „Wir haben es nicht auf friedliche Weise erreicht, aber diese Jungen haben das Ende der Diktatur erreicht“, sagte sie. Die Täter müssten bestraft werden.
„Die Helden sterben nie!“, rief Timoschenko, und die Menge antwortete in Sprechchören. „Ich habe daran gedacht, wie unsere Kinder auf der Straße standen und bereit waren, ihr Leben zu geben. Als Scharfschützen ihre Kugeln in die Herzen unserer Jungen feuerten, trafen sie auch unsere Herzen, und dort werden diese Wunden immer bleiben.“
Immer wieder warnte sie davor, den Maidan jetzt zu räumen. „Wenn irgendjemand Euch sagt, Ihr sollt nach Hause gehen, traut ihm nicht, geht bis zum letzten Schritt!“, sagte die Politikerin.
Unmittelbar nach ihrer Ankunft in Kiew hatte Timoschenko bereits einen direkten Kurs auf die EU gefordert. „Ich bin überzeugt, dass die Ukraine in nächster Zeit Mitglied der Europäischen Union sein und dies alles ändern wird“, sagte sie. Janukowitsch hatte auf Druck Russlands eine EU-Annäherung auf Eis gelegt.
Das ukrainische Parlament hatte die Oppositionsführerin Julia Timoschenko zuvor aus der Haft befreit und den Präsidenten Viktor Janukowitsch für abgesetzt erklärt. Das Abgeordnetenhaus in Kiew kündigte am Samstag für den 25. Mai die Wahl eines neuen Staatschefs an. Janukowitsch erklärte die Beschlüsse für „gesetzwidrig“. Er werde nicht zurücktreten und auch nicht das Land verlassen.
Russland rückte erstmals öffentlich von Janukowitsch ab. Die jüngsten Ereignisse im Nachbarland seien Beweis für den Machtverlust des Staatschefs, meinte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses der Staatsduma, Alexej Puschkow, in Moskau.
Grenzpolizei stoppt Flugzeug mit ukrainischem Präsidenten
Der ukrainische Grenzschutz hat nach eigenen Angaben ein Flugzeug mit Präsident Viktor Janukowitsch kurz vor dem Abflug gestoppt. Janukowitsch habe – begleitet von bewaffneten Sicherheitsleuten – ohne die übliche Grenzabfertigung von der Stadt Donezk aus fortfliegen wollen. Das sagte der Sprecher des Grenzschutzes, Sergej Astachow, der Agentur Interfax zufolge am Samstag. Astachow zufolge war unklar, wohin der Staatschef reisen wollte. Janukowitsch sei letztlich aus dem Flugzeug ausgestiegen und habe den Ort in einer gepanzerten Limousine verlassen. Er hatte im Machtkampf der Ex-Sowjetrepublik einen Rücktritt abgelehnt.
Timoschenko fordert Strafen nach Tod von Demonstranten
Timoschenko hat nach dem Tod von Demonstranten in Kiew eine Bestrafung der Täter gefordert. Es gelte, das Andenken der Menschen zu ehren, die für die Freiheit der Ukraine gestorben seien, sagte Timoschenko nach ihrer Landung in Kiew.
Oppositionspolitiker Vitali Klitschko sprach von einem „politischen K.O.“ für Janukowitsch. In Kiew schützten sogenannte Selbstverteidigungskräfte das Parlament, den Regierungssitz und die Präsidialkanzlei vor Übergriffen. Die Sicherheitsorgane des Innenministeriums liefen zur Opposition über. Die Armee erklärte, sie werde sich nicht in den Machtkampf einmischen.
Janukowitsch hielt sich nach eigener Aussage im prorussischen Osten des Landes auf. „Die Ereignisse, die unser Land und die ganze Welt gesehen haben, sind ein Beispiel für einen Staatsumsturz“, sagte der Präsident. Seine Residenz Meschigorje bei Kiew war verlassen, Wachleute ließen Schaulustige zu einem „Tag der offenen Tür“ herein. „Ein trauriges Ende für einen Präsidenten“, meinte Puschkow.
Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier schätzte die Lage trotz eines Abkommens zwischen den Konfliktparteien als „höchst fragil“ ein. „Die Vereinbarung ist keine Garantieerklärung für eine friedliche Entwicklung der Ukraine mit einer politischen Zukunft, die das Land beieinander hält“, sagte Steinmeier in Hofgeismar (Hessen). Im „Spiegel“ lobte der SPD-Politiker Russlands Rolle bei den jüngsten Verhandlungen in Kiew. Moskaus Unterhändler Wladimir Lukin habe sehr konstruktiv mitverhandelt. Am Freitag hatten Regierung und Opposition auch unter Vermittlung Steinmeiers einen Kompromiss beschlossen, der einen politischen Ausweg ebnen soll.
Die Oberste Rada in Kiew wählte mit großer Mehrheit den früheren Vizeregierungschef Alexander Turtschinow zum neuen Parlamentspräsidenten. Er ist ein Vertrauter Timoschenkos. Der bisherige Rada-Chef Wladimir Rybak hatte zuvor seinen Rücktritt erklärt. Turtschinow soll bis zur Ernennung einer Übergangsregierung die Kabinettsarbeit steuern. Zum Innenminister wurde der Oppositionelle Arsen Awakow bestimmt, Generalstaatsanwalt Viktor Pschonka hingegen entlassen. Viele TV-Sender übertrugen die Sitzung.
Janukowitsch formal weiter im Amt
Experten wiesen darauf hin, dass der Staatschef trotz des Parlamentsbeschlusses formal weiter im Amt sei. Ein juristisch korrektes Amtsenthebungsverfahren müsse mehrere Hürden überwinden. Mehrere Kabinettsmitglieder sollen ins Ausland geflohen sein, darunter der vom Parlament abgesetzte Innenminister Witali Sachartschenko.
In Charkow, einer Machtbasis Janukowitschs, trafen sich Delegierte aus dem prorussischen Osten und Süden der Ex-Sowjetrepublik zu einem Kongress der sogenannten Ukrainischen Front. Dabei warfen sie der Opposition einen Staatsstreich mit Hilfe der EU und der USA vor.
Bei blutigen Zusammenstößen von Regierungsgegnern mit der Polizei in Kiew waren in den vergangenen Tagen auf beiden Seiten mindestens 77 Menschen getötet und Hunderte verletzt worden. „Wir fordern den sofortigen Rücktritt des Präsidenten“, sagte der Kommandant des Unabhängigkeitsplatzes (Maidan), Andrej Parubij. „Jetzt kontrolliert der Maidan ganz Kiew.“ In westlichen Regionen hatten Regierungsgegner schon zuvor die Kontrolle über Verwaltungsgebäude übernommen.
Die Demonstrationen gegen Janukowitsch waren Ende November ausgebrochen, nachdem der Staatschef auf Druck Russlands ein historisches Partnerschaftsabkommen mit der EU auf Eis gelegt hatte.
Timoschenko war im Oktober 2011 wegen Amtsmissbrauchs trotz internationaler Proteste zu sieben Jahren Straflager verurteilt worden. In dem nach Ansicht internationaler Beobachter politisch motivierten Verfahren wurde ihr ein Abkommen mit Russland über Gaslieferungen zum Nachteil der Ukraine zur Last gelegt.