Die angebliche Orgel aller Sprachen erzeugt schon bei der Mehrzahlbildung einige Misstöne.

Für den Frühromantiker Jean Paul (1763 bis 1825) war seine deutsche Muttersprache die „Orgel der Sprachen in der Welt“, also das Instrument der Verständigung von unerreichter Größe, Vielfalt und einmaligem Wohlklang. Der amerikanische Realist Mark Twain (1835 bis 1910) zog hingegen nach seiner ersten Europareise 1880 die bittere Bilanz von der „schrecklichen deutschen Sprache“. Er hatte versucht, in 90 Tagen Deutsch zu lernen, und war gescheitert. In seinem treffsicheren, wenn auch humorvollen Essay „The Awful German Language“ spießte er die Stolpersteine und Schwierigkeiten auf, die sich im Gegensatz zum Englischen in der deutschen Grammatik jedwelcher Bemühung entgegenstellten.

Deutschstunde: Mark Twain hatte sich bei der Pluralbildung verirrt

Bekannt ist seine Klage, dass im Deutschen „die“ Rübe amtlich ein weibliches Geschlecht habe, „das“ Mädchen aber neutral und unbestimmt herumlaufen müsse. Neben der schwierigen Deklination der Attribute und den Schachtelsätzen, die sich über zwei Buchseiten hinziehen konnten, hatte Mark Twain sich auch bei der Pluralbildung verirrt.

Bei den flektierenden (beugungsfähigen) Wortarten Pronomen, Artikelwörtern, Substantiven, Adjektiven und Verben treten in der Regel Formen in der Einzahl (Singular) und in der Mehrzahl (Plural) auf. Die weitaus meisten Zweifelsfälle sind bei den Pluralen der Substantive (Hauptwörter) zu finden. Ist es häufig schon schwierig genug, den Singular zu buchstabieren (Schreiben Sie einmal „die Hämorrhoide“!), so kann ein Ungeübter leicht an den Möglichkeiten der Pluralbildung verzweifeln.

„Spaghetti“ ist der Plural von „Spaghetto“, dem italienischen „Schnürchen“

Schalten wir uns einmal in das Mittagsgespräch der Familie Schulze ein: „Wenn du die Spaghettis nicht isst, bekommst du gar nichts!“, schimpfte die Mutter mit ihrem Sprössling, der sich auf dem Heimweg von der Schule mit mehreren Schokoriegeln, einem Softeisbecher und einer Tüte „Pommes“ aus dem schmuddeligen Würstchenwagen an der Ecke bereits gründlich den Appetit verdorben hatte. Wir wollen an dieser Stelle jedoch weder untersuchen, warum die deutschen Kinder wegen solcher Kalorienbomben immer dicker werden, noch wollen wir Mutters Kochkunst in Zweifel ziehen. Uns geht es ausschließlich um die Grammatik.

Ohne Mutter nun allzu nahe zu treten, müssen wir anmerken, dass sie sich bei der Bildung der Mehrzahl verheddert hat. „Spaghetti“ ist bereits Plural. Der Singular heißt nämlich „Spaghetto“ (ital. „Schnürchen“), was angesichts des Gewimmels von „langen, dünnen, stäbchenförmigen Teigwaren“ (Fremdwörterbuch) auf dem Teller allerdings etwas singulär klingen und nicht satt machen würde. Hamburg, und leider nicht nur Hamburg, wird nicht durch immer mehr „Graffitis“ verunstaltet, sondern durch „Graffiti“, wie sie im Plural genannt werden. Ein Einzelstück dieser Schmierereien wäre ein „Graffito“.

Deutschstunde: Ein Dutzend unterschiedlicher Pluralformen

Auch bei anderen Fremdwörtern muss man aufpassen: das Visum/die Visa, der Modus/die Modi, das Material/die Materialien, das Nomen/die Nomina, das Komma/die Kommas, der Atlas/die Atlanten oder der Index/die Indizes. Im Zeichen der Wirtschaftskrise sollte man aufpassen, ob kurz vor der Insolvenz nicht nur ein Bonus, sondern sogar mehrere „Boni“ gezahlt werden.

Während im Englischen und Französischen der Plural, von wenigen Sonderfällen abgesehen, durch einfaches Anhängen eines „-s“ an den Singular gebildet wird (the house/the houses bzw. la maison/les maisons), haben wir es im Deutschen mit einem Dutzend unterschiedlicher Pluralformen zu tun. Teilweise erscheint der Stammvokal umgelautet (der Boden/die Böden), und ab und zu reicht der Umlaut allein nicht aus, um die Mehrzahl zu verdeutlichen, sodass noch die Endung „-er“ zu Hilfe genommen werden muss (das Bad/die Bäder). Manchmal begnügt man sich mit einem einfachen „-e“ (der Berg/die Berge), mit einem „-en“ (die Bahn/die Bahnen) oder einem „-ten“ (der Bau/die Bauten).

Noch verzwickter wird es, wenn wir es mit doppelten Pluralformen bei jeweils unterschiedlicher Bedeutung zu tun haben – etwa „die Mutter/die Mütter“ (Elternteile) bzw. „die Muttern“ (Schraubenteile) oder auch „der Strauß/ die Strauße“ (Vögel) bzw. „die Sträuße“ (Blumen).

Deutschstunde@t-online.de