Hamburg. Wenn die Wirklichkeit zur Möglichkeit wird. Ein „würde“ allein macht noch keinen Konjunktiv, erklärt Peter Schmachthagen.

Nachdem ich vor einer Woche den harmlosen Namen „Toast Hawaii“ gegen den absurden Vorwurf des Kolonialismus und der angeblichen Ausbeutung der indigenen Inselbewohner verteidigt habe, was mir Zustimmung und Danksagungen, zeitweise im Minutentakt, aber auch drei bitterböse Mails einbrachte, wiederhole ich heute zur Entspannung ein Thema, das immer wieder nachgefragt wird.

Schleichen wir uns einmal auf einen Schulhof irgendwo zwischen Barmbek-Nord und St. Pauli und beobachten zwei kleine Mädchen, das eine mit einer Riesenschleife im Haar und das andere mit geflochtenen Zöpfen.

Klein Erna mit den Zöpfen sieht ungeduldig, wie Emma unermüdlich mit einem Springtau hüpft. Schließlich ruft sie: „Lass mir mal!“ Die Lehrerin, die auch während der Pausenaufsicht immer Lehrerin bleibt, verbessert: „Lass mich mal!“ „Ja“, jubelt Klein Erna, „lass ihr mal!“

Deutschstunde: Der Ausdruck "Lass mir mal!" ist sprachlich nicht ganz korrekt

Was ist das? Hamburgisch? Nein, Grammatik. Die Wörter an sich stimmen, nur ihre Form und ihr Bezug untereinander passen nicht. Die Grammatik ist der Teil der Sprachwissenschaft, der sich mit den Formen und deren Funktion im Satz beschäftigt, also mit den Gesetzmäßigkeiten beim Bau einer Sprache.

Die deutsche Grammatik ist weniger eine Kunst als eine Heimsuchung. Ein Leser schrieb mir, er beschäftige eine ausländische Haushaltshilfe, die einen Deutschkursus besuche. Er gebe ihr jeweils die aktuelle Folge meiner „Deutschstunde“ mit. Schön für einen Autor, wenn seine Kolumne sogar zum Lehrmaterial wird.

Der Konjunktiv muss genauer in den Blick genommen werden

Ich befürchte allerdings, die Migrantin könnte sich im Labyrinth der Grammatik verlaufen. Sehen wir nur einmal auf die Konjugation, auf die Beugung der Verben. Nehmen wir an, unsere Deutschlernende stößt auf die Zeichenfolge „zogst“.

Dann muss sie dieser Form folgende Eigenschaften zuordnen: 2. Person mit dem Numerus Singular (du; Plural: ihr zogt), Tempus Präteritum (Vergangenheit; Präsens: ziehst), Modus Indikativ (Konjunktiv: zögest) und Genus Verbi Aktiv (Passiv: wurdest gezogen).

Damit ist das Wort mit dem Infinitiv „ziehen“ noch nicht ausrecherchiert. Wir müssen einen genauen Blick auf den Konjunktiv werfen, auf die Möglichkeitsform. „Das Pferd zog den Wagen“ ist Wirklichkeit, ist also die Form des Indikativs, aber: „Das Pferd zöge den Wagen“ zeigt den Konjunktiv und sagt aus, dass die Möglichkeit des Ziehens gegeben gewesen wäre, wenn der Kutscher seinen Besuch an der Theke früher beendet hätte.

In indirekten Aussagen ist der Konjunktiv unerlässlich

Der Konjunktiv hat es im deutschen Sprachraum immer schwer gehabt. Seine beiden Formen auseinanderzuhalten und korrekt anzuwenden war häufig einer sprachbewussten Minderheit vorbehalten. In einem Fall ist der Konjunktiv jedoch nach wie vor unerlässlich: bei der indirekten Rede, bei der man die wörtliche Aussage des Sprechenden einem Dritten indirekt wiedergibt.

Direkt: Fritz sagt: „Es regnet.“ Indirekt: Fritz sagte, es regne. Die indirekte Aussage steht im Konjunktiv Präsens. Falls dessen Formen aber mit denen des Indikativs identisch sind, werden sie aus dem Präteritum gebildet (Konjunktiv II): ich sehe – ich sähe.

In der Praxis werden sie oft mit dem Joker „würde“ umschrieben. Es herrscht geradezu eine „würde“-Seuche in der Sprache. Die ist nicht nur falsch, die ergibt auch einen anderen Sinn. Der Regierungssprecher habe gesagt, der Bundeskanzler „würde“ noch heute Abend Emmanuel Macron treffen.

Deutschstunde: Der Konjunktiv II gibt Sätzen eine andere Bedeutung

Und warum tut er’s nicht? Diese Aussage schreit geradezu nach einem Konditionalsatz, der die Bedingung für die (Nicht-)Erfüllbarkeit der Ankündigung näher erläutert, etwa: „wenn er nicht krank wäre“. Da wir Olaf Scholz aber abends in der „Tagesschau“ putzmunter die Stufen des Élysée-Palastes hinaufeilen sehen, dürfen wir annehmen, dass es nicht „würde“, sondern „werde“ hätte heißen müssen.

Schlägt man eine beliebige Mitteilung auf, befindet man sich nicht selten im „würde“-Überschwang. Der Ortsverband „würde“ Geld für die Ukraine sammeln? Nein, „er sammelt“ (direkt) oder „er sammle“ (indirekt) bereits. Eine Eselsbrücke lautet: Ein „würde“ macht noch keinen Konjunktiv, sondern sitzt meistens wie ein Kuckuck im falschen Nest.

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