Das schwache Verb verliert immer häufiger sein „zu“, ohne den Sprung zum Modalverb geschafft zu haben.

Es ist an der Zeit, sich wieder einmal an ein schwaches Verb zu erinnern, das zu gern ein Modalverb wäre und sein „zu“ im Infinitiv ablegen möchte, aber kein Modalverb ist. „Wer ‚brauchen‘ ohne ‚zu‘ gebraucht, braucht ‚brauchen‘ überhaupt nicht zu gebrauchen“, schrieb mir ein Leser­ und fuhr fort: „Diesen Merkspruch haben uns unsere Lehrer schon vor mehr als 60 Jahren eingebimst – er wird aber im TV und teilweise auch in der Presse bedauer­licherweise und offenbar wegen Un­wissenheit vergessen. Mich stört das außerordentlich.“

Mich stört das auch, aber die Bitte des Lesers, die korrekte Grammatik künftig in allen Medien durchzusetzen, überfordert einen Kolumnisten. Die Grammatik passt sich im täglichen Gebrauch an und schleift sich ab. Die Sprache entwickelt sich, bis schließlich gilt, was gesprochen wird, nicht das, was gesprochen werden soll. Wenn das nicht so wäre, würden wir heute noch so reden wie die Goten beim Kampf um Rom.

Kolumne Deutschstunde: Warum „brauchen“ sein „zu“ verliert

Dass „brauchen“ mit Infinitiv in der Öffentlichkeit zunehmend sein „zu“ verliert, liegt am Beispiel der Modalverben „müssen, dürfen, können, sollen, wollen“ und „mögen“, die eine Aussage modal (im Sinne der Art und Weise) modifizieren, und zwar ohne „zu“. „Vater arbeitet“ ist eine klare, aber schmucklose Aussage. Doch das Abtönen mit einem Modalverb wie „Vater muss (will/darf/soll/kann) arbeiten“ sagt viel mehr über den Umstand und über Vaters Gemütszustand aus.

Die Modalverben stehen als Kategorie zwischen den Hilfsverben und den Vollverben. Sie tönen eine Aussage ab. Sie ergänzen­ das Vollverb im Satz nicht im Partizip II, sondern im Infinitiv (in der Grundform). Es heißt: Er hat nicht laufen „müssen“, nicht etwa „Er hat nicht laufen gemusst“. Oder: Er hat schwimmen „dürfen“ (nicht: gedurft). Wenn ein Infinitiv ein Partizip ersetzt, sprechen wir von einem „Ersatzinfinitiv“. Eine solche Form ist fach- und hochsprachlich völlig korrekt, wenn mir diese Konstruktion auch immer wieder als Fehler gemeldet wird.

In diese Reihe schiebt sich nun unser „brauchen“ mit „zu“: Er hat nicht „zu“ laufen brauchen als „Er hat nicht laufen brauchen“ ohne „zu“. Das ist hochsprachlich nicht korrekt, aber nachvollziehbar, wenn die Umgangssprache hier eine Angleichung an die Modalverben vornimmt. In der geschriebenen Sprache wird das „zu“ vor dem Infinitiv meistens noch gesetzt, und Sie sollten es selbst beim Reden gebrauchen, um zu vermeiden, dass Ihr an die konservative Grammatik gewöhnter Gesprächspartner zusammenzuckt.

„Brauchen“: Der Akkusativ erobert die Umgangssprache

Wer wie ich als Kind vom Vater oder Lehrer immer wieder unterbrochen worden ist, sobald er ein „brauchen“ ohne „zu“ gebraucht hat, kann auch heute einer Fußballübertragung nicht entspannt folgen, wenn der Reporter „Reus hätte nicht abgeben brauchen!“ ruft. Ich erwische mich schon einmal dabei, dass ich dem Fernsehapparat ein scharfes „zu“ ent­gegenschleudere und dabei verpasse, dass Bellingham inzwischen den Ausgleich geschossen­ hat.

In der gehobenen Sprache kann das Objekt bei „brauchen“ im Genitiv stehen: Dazu braucht es „keines Beweises“. Diese Formulierung ist immer seltener zu finden. Der Akkusativ erobert auch hier die Umgangssprache: Dazu braucht es nur „einen Anstoß“.

Der Konjunktiv II der schwachen Verben kennt keinen Umlaut. Es heißt „brauchte, brauchtest“ und nicht „bräuchte, bräuchtest“, obwohl dieser Weißwurst-Konjunktiv aus Süddeutschland wie süßer Senf auf unserer Sprache liegt. Der Umlaut bleibt auch weg, wenn die Form bei der indirekten Rede mit dem Indikativ identisch ist.

Übrigens „brauchen“ (benutzen) wir unsere Ellbogen oder unseren Verstand. Nicht korrekt wäre das Verb „gebrauchen“ im Sinne von „nötig haben“: Ich „brauche“ (benötige) viel Geld für den Kauf der Rheumadecke während der Kaffeefahrt, obwohl ich diesen Schund nie „gebrauchen“ (benutzen) werde.

Was sagt doch der Hamburger, wenn man ihn drängt: „Das brauchen Sie unbedingt!“? Er antwortet kurz und deutlich: „Dor schiet ik op!“ Auf eine wörtliche Übersetzung wollen wir in diesem Fall verzichten.

deutschstunde@t-online.de