Hamburg. Allerdings bekommen manche Leute den Mund nicht auf, andere ihn dafür nicht wieder zu.

Wenn wir dem Evangelium des Johannes folgen, stand das Wort am Anfang aller Schöpfung. Es war das Wort, mit dem der Herr Himmel und Erde schuf. Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.

Bevor es jedoch allzu liturgisch wird, wenden wir uns besser der Grammatik zu. Das Wort ist die kleinste sinntragende Einheit unserer Sprache. Die Stammellaute eines Babys ergeben keinen Sinn, selbst wenn die liebevolle Mutter ihren Säugling zu verstehen meint. Zufällig aneinandergereihte Buchstaben formen noch kein Wort. Erst einer bestimmten Zeichenfolge können wir eine ihr innewohnende Bedeutung zuordnen.

Die Gesamtheit aller Wörter ist unser kostbarster Besitz

Der Plural von „Wort“ lautet übrigens „Wörter“, nicht „Worte“, etwa Hauptwörter, Tunwörter, Zeitwörter, Stichwörter, Sprichwörter und Schimpfwörter. Nur wenn es ganz getragen wird, wenn wir Goethe oder die Bibel zitieren, sprechen wir von „Worten“: Goethes Worte, die Worte der Bibel. Gott selbst bedarf keines Plurals: Gottes Wort ist ein allumfassendes Singularetantum, ein nur in der Einzahl vorkommender Sinngehalt.

Der Plural von „Wort“ lautet, anders ausgedrückt, dann „Wörter“, wenn es sich um das Auftreten mehrerer einzelner davon handelt, wenn man sie also zählen kann oder könnte. „Worte“ sind hingegen Wörter in feststehenden Zusammenhängen oder Ausdrücken (Dankesworte, ehrliche Worte, leere Worte), die man mehr oder weniger ehrfürchtig zur Kenntnis nehmen muss.

Die Gesamtheit aller Wörter ist unser kostbarster Besitz, unser Schatz, nämlich der „Wortschatz“ unserer Muttersprache. Der Wortschatz der deutschen Standardsprache wird auf 300.000 bis 500.000 Wörter geschätzt. So genau weiß das niemand, und so genau lassen sich die Kriterien auch nicht abgrenzen. Die Ableitungen und Zusammensetzungen (Komposita) vermehren den deutschen Standardwortschatz um ein Vielfaches. Schrieben wir alle Ordinal-, Kardinal- und Bruchzahlen aus, kämen wir auf mehrere Trillionen, theoretisch sogar auf unendlich viele Formen.

In Goethes Werken soll es 90.000 unterschiedliche Wörter geben

Die Fach- und Fremdwörter sind dabei noch nicht einmal berücksichtigt. Allein die Fachsprache der Chemie enthält mehrere Millionen Benennungen. Diese Zahl erhöht meinen Respekt vor den Naturwissenschaftlern ungeheuer, steigert aber auch meine Angst, dass die Alchemisten einmal etwas verwechseln und die Erde in die Luft sprengen könnten.

In Goethes Werken soll es 90.000 unterschiedliche Wörter geben. Wahrscheinlich kannte er noch mehr, schrieb sie nur nicht. Er stammte aus Frankfurt am Main, wo es bekanntlich von klugen Köpfen nur so wimmelt. Konrad Adenauer kam hingegen mit 500 Wörtern aus. Jedenfalls behauptete das sein Widersacher, der 1952 gestorbene SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher, als er eingesehen hatte, dass man mit wenigen Schlagworten leichter Bundeskanzler wird als mit der Weitschweifigkeit marxistischer Theorien.

Fußballer benötigen noch weniger Wörter

Fußballer benötigen noch weniger Wörter. Die deutschen Nationalspieler hielten sich bei der Weltmeisterschaft in Katar sogar mit der Hand den Mund zu. Dafür ritt Kapitän Manuel Neuer am Freitag in der „Süddeutschen Zeitung“ eine so wortreiche Attacke gegen seinen Verein, dass seine Karriere beim FC Bayern München beendet sein dürfte.

Bleiben wir beim Fußball: Im Jahre 2006 strömten erstmals riesige Menschenmassen zusammen, schwarz-rot-gold gekleidet und im Gefühl eines „Sommermärchens“ vereint. Hier waren sie deutsch, hier durften sie’s sein, ohne dafür getadelt zu werden. Das Universalwörterbuch beschreibt dieses Phänomen als „gemeinsames Sichansehen von auf Großbildleinwänden im Freien live übertragenen Sportveranstaltungen“. Das Synonymwörterbuch schlägt als Bezeichnung „Rudelgucken“ vor. Rudelgucken erinnert aber wohl doch zu sehr an den Affenfelsen bei Hagenbeck.

Also bilden wir als gute Deutsche einen neuen Anglizismus: Public Viewing. Das Dumme ist nur, dass „Public Viewing“ im Amerikanischen die öffentliche Aufbahrung eines Verstorbenen bedeutet, was, auf den deutschen Fußball übertragen, wohl doch ein wenig zu bösartig wäre.

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