Der bekannte Neujahrswunsch hat nichts mit einem Sturz auf den Gehweg zu tun, sondern ist Anleihe aus einer Geheimsprache.

Wer rutscht oder ausrutscht, bewegt sich nach unten. Das gilt allerdings nur für Personen­ und leider nicht für die Energiepreise. Die rutschen nicht nach unten, sondern steigen explosionsartig in die Gegenrichtung, obwohl die Windräder im Augenblick bei stürmischem Wetter so viel Strom erzeugen, dass er teilweise ins Ausland verschenkt werden kann. Den deutschen Haushalten wird dagegen der letzte Cent weggezogen – Konten und Portemonnaies entleeren sich nach unten, womit wir wieder bei der Abwärtsbewegung sind.

Neujahrswunsch: 2022 war zu warm zum Rutschen

Rutschen ist das Antonym (Gegenwort) zu stolpern. Wer stolpert, fällt nach vorn auf die Nase, wer ausrutscht, dem werden hingegen die Beine weggezogen, und er stürzt auf sein Hinterteil. Jedenfalls ist mir das passiert, als Anfang Dezember ein Hauch von Winter unser Dorf überzogen hatte. Mein Hund zerrte an der Leine, und ich knallte derart mit dem Hinterkopf auf den vereisten Gehweg, dass ich noch heute Kopfschmerzen habe.

Insofern verstand ich es nicht, dass mir alle Nachbarn zu Silvester nicht nur einen weiteren Rutsch, sondern sogar einen „guten Rutsch“ wünschten, und zwar nicht auf dem Gehweg, sondern gleich ins neue Jahr hinein. Der Schnee war inzwischen geschmolzen, der Boden matschig und die Temperaturen so hoch, dass die Meteorologen wieder einmal ein Maximum „seit Beginn der Aufzeichnungen“ meldeten.

Allerdings werden von den Agenturen so viele Maxima geliefert, dass ich mich frage, ob früher eigentlich irgendwann einmal „normales“ Wetter geherrscht habe. Doch mit Normalitäten kommt man nicht in die Zeitung.

Wunschformel zu Silvester stammt aus dem Rotwelschen

Offenbar hatte der Wunsch nichts mit dem Gehweg, aber mit dem Jahreswechsel zu tun, und ich sollte nicht mit gebrochenen Gliedern ins Krankenhaus kommen, sondern in der Zukunft alles Gute erleben. Es handelt sich um eine umgangssprachliche Wunschformel zu Silvester, die aus dem Rotwelschen, dem „Bettler­latein“, stammt, aber lautlich missverstanden und als „gute Reise“ übersetzt worden ist.

„Rotwelsch“ ist die Geheimsprache der Gauner, die sich früher hauptsächlich aus dem Jiddischen speiste, dem Mittelhochdeutschen der Juden in Osteuropa, in dem sich viele hebräische und slawische Spuren bewahrt hatten. Danach geht der „Rutsch“ auf das im Jiddischen lebendige hebräische Wort „rosch“ in der Bedeutung „Anfang“ zurück, das auch im Namen des jüdischen Neujahrsfestes, Rosch ha-Schana („Anfang des Jahres“), enthalten ist. Ohne größere etymologische (worthistorische) Sorgfalt ist die Redewendung „in einem Rutsch“ eingedeutscht worden, die „auf einmal“ oder „ohne Unterbrechung“ bedeutet.

Rotwelsch ist eine historische Geheim- und Subkultursprache der Landfahrer, Hausierer, Bettler, Vaganten, Musikanten, Scherenschleifer, Diebe, des fahrenden Volkes und der Nichtsesshaften am Rande der Gesellschaft. „Rot“ hieß im späten Mittelalter der lügend und betrügend herumziehende Berufsbettler, Possenreißer und Gaukler, und als „welsch“ galten die romanischen Sprachen. Weil man sie nicht verstand, war eine welsche Redeweise gleich einer unverständlichen Redeweise. Auch „Kauderwelsch“ bedeutet etwas Ähnliches, nämlich die welsche („undeutsche“) Ausdrucksweise der von Dorf zu Dorf ziehenden Hausierer aus rotw. „kaudern“ (hausieren).

Wieso zieht es eigentlich wie Hechtsuppe?

Die Fechtbrüder (rotw. „fechten“ – betteln) wollten sich untereinander verstehen, aber nicht von ihren potenziellen Opfern, den Reichen und Sesshaften, verstanden werden, sobald sie diese „Kundschaft“ „ausbaldowerten“ (hebr. auskundschafteten). Die Verballhornung „blaumachen“ (nicht arbeiten) gehört zu jidd. „belo“ (ohne), „Schmiere stehen“ zu jidd. „schmiro“ (Wache), „ohne Moos“ zu jidd. „moess“ (Geld), „im Eimer sein“ zu jidd. „emo“ (Furcht) sowie „flöten gehen“ zu jidd. „plejta“ (Flucht). Wer Pleite machte, begab sich auf die Flucht vor seinen Gläubigern.

Vielleicht haben Sie schon einmal gerufen: „Hier zieht’s wie Hechtsuppe!“ Wieso Hechtsuppe? Mit dem Speiseplan der Kantine hat das nichts zu tun, sondern mit der sinnfreien Eindeutschung des jidd. „hech supha“ („wie ein Sturmwind“).

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