Die zum Teil heftigen Silvesterkrawalle in vielen deutschen Städten offenbaren bittere Probleme.
Es sind Bilder, die jeden Demokraten verstören müssen: In der Silvesternacht wurden an vielen Orten Polizisten, Feuerwehrleute und Rettungskräfte angegriffen. Nun mischen Alkohol, Böller und Partyrausch in dieser Nacht traditionell ein explosives Gemisch, Grenzverletzungen und Vandalismus sind nicht neu. Aber die Ballung der Angriffe in Hamburg, Berlin, Nordrhein-Westfalen, Stuttgart oder Leipzig stellen eine neue Dimension dar. Wer Einsatzkräfte angreift, die Gesetze durchsetzen, oder Rettungsdienste beschießt, die Leben retten, greift den Rechtsstaat an. Offenbar wächst die Bereitschaft, die Spielregeln des Zusammenlebens über den Haufen zu werfen.
Rufe nach Böllerverboten helfen nicht weiter
Die fast reflexhaften Rufe nach Böllerverboten oder härteren Strafen helfen da nicht weiter. Wichtiger ist hinzusehen, wer Gefallen an dem „molekularen Bürgerkrieg“ hat, vor dem der kürzlich verstorbene Intellektuelle Hans Magnus Enzensberger schon vor 30 Jahren warnte. Woher rühren der Hass, die Verachtung, die Verzweiflung? Erleben wir nur den Übermut testosterongesteuerter Jugendlicher nach langen Monaten der Pandemie? Ist es der alkoholexzessive Ausnahmezustand einer Nacht, der im kollektiven Amoklauf mündet? Gar die Aussicht auf 15 Minuten Ruhm in „sozialen Netzwerken“, die Chance, auch als armes Würstchen kurz groß herauszukommen?
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Oder ist alles schlimmer? Entwickeln sich hierzulande – etwa in Harburg – Zustände wie in den französischen Banlieues? Gibt es eine Gemengelage aus Chancen- und Hoffnungslosigkeit, die die Wut schürt? Welche Rolle spielen kulturelle Hintergründe? Polizeiberichte aus allen Teilen der Republik zeigen, dass migrantische Gruppen an den Krawallen klar überrepräsentiert sind. Was ist da bei der Integration schiefgelaufen, wie schwer wiegen Rassismus- und Diskriminierungserfahrungen? Oder bricht sich eine tief sitzende Staatsverachtung, die aus anderen Kulturen eingewandert ist, in diesen Nächten auf deutschen Straßen Bahn?
Suche nach Ursachen ist elementar für die Lösung des Problems
Will man das überhaupt wissen? In Berlin, so hat es der rot-rot-grüne Senat verfügt, soll der Migrationshintergrund nicht mehr erfasst werden. Bevor man eine Antwort bekommt, die missfallen könnte, verbietet man lieber schon die Frage. Dabei ist die Suche nach den Ursachen elementar für die Lösung. Enzensberger warnte in „Aussichten auf den Bürgerkrieg“ deutlich: „Begonnen wird er stets von einer Minderheit; wahrscheinlich genügt es, wenn jeder Hunderte ihn will, um ein zivilisiertes Zusammenleben unmöglich zu machen.“ Noch hätten diese Bürgerkriege nicht die Massen ergriffen; sie könnten aber „jederzeit eskalieren ... und zum Flächenbrand werden.“
Wir sollten gewarnt sein: Der frühere Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde mahnte einst, das „Wir-Gefühl“ müsse in Demokratien stärker ausgebildet sein als in autoritären Staaten, weil die Menschen die politischen Entscheidungen mittragen müssten, als seien es ihre eigenen. Ein funktionierendes Gemeinwesen benötige gemeinsame Auffassungen und Zielvorstellungen.
Leider erleben wir derzeit das Gegenteil: Die Identitätspolitik zerlegt die Gesellschaft in immer kleinere Teile, Unterschiede werden kultiviert, Gemeinsamkeiten negiert. Viele kennen ihre Rechte zur Genüge, formulieren offensiv ihre Ansprüche – und pfeifen zugleich auf alle Pflichten und jede Rücksichtnahme. Ein zivilisiertes Zusammenleben aber ist kein Selbstläufer, sondern muss in demokratischen Gesellschaften immer wieder errungen werden. Der Lack der Zivilisation ist dünn. Verdammt dünn.