Berlin. Über den Heldenmut eines Fast-Pensionärs, einen teuren Wellnessclub und existenzielle Fragen. Ein Debattenbeitrag von Hajo Schumacher.

Kaum zu glauben, aber wirtschaft­liche Not war ein Grund, warum sich im Frühsommer 1950 die Leiter von sechs Rundfunkanstalten in Bremen trafen. Noch vor Gründung der Bundesrepublik 1949 hatten die Besatzungsmächte die Sender in ihren Zonen zugelassen, um aus den Deutschen gute Demokraten zu machen. Gebühren sollten freies, unabhängiges Berichten sichern.

Aus dem britischen Sektor war der Nordwestdeutsche Rundfunk (NWDR) dabei, der nach dem Vorbild der BBC ein riesiges Sendegebiet von der Nordsee bis zum Rhein versorgte und später in NDR und WDR geteilt wurde. Um publizistische Großmacht zu verhindern, setzten die USA auf regionale Sender: Radio München (später Bayerischer Rundfunk), Radio Stuttgart (später Süddeutscher Rundfunk), Radio Frankfurt (später Hessischer Rundfunk) und Radio Bremen sowie als beratendes Mitglied das Radio im amerikanischen Sektor (RIAS) aus Berlin.

Rundfunk: ARD in der Identitätskrise

Der SWR repräsentierte die französische Zone. Um die Kosten für Auslandsberichte, Rechte, Technik zu teilen, Programm zu tauschen und international gemeinsam aufzutreten, verbündeten sich die Sender zur „Arbeitsgemeinschaft öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland“, kurz ARD.

72 Jahre später, aus sechs sind neun Anstalten geworden, windet sich die ARD in Sinnfragen: Wer sind wir? Was wollen wir? Und erstmals fasst ein Hierarch den Mut, die Identitätskrise anzusprechen. Auf dem neutralen Terrain des Hamburger Übersee-Clubs und „auf eigenes Risiko“ fragte WDR-Intendant Tom Buhrow ungewohnt selbstkritisch: „Was wollen wir von einem gemeinnützigen Rundfunk im 21. Jahrhundert? Was wollen wir nicht? Oder nicht mehr?“

Rundfunkgeschichte dreht sich um das Überleben

Mit dem Heldenmut des Fast-Pensionärs fasst der frühere „Tagesthemen“-Moderator Buhrow Tabus an, die ARD-intern heftig umtuschelt, öffentlich aber beschwiegen werden: Warum leisten wir uns als einziges Land auf der Welt mit ARD und ZDF zwei öffentlich-rechtliche Dickschiffe? Gehören Chöre und Orchester zum Sendeauftrag? Kümmern sich die Anführer um gutes Programm oder um das Wohl der eigenen Kaste? Der Normalnutzer hätte noch gefragt, warum die öffentlich-rechtlichen Sender Europas ihre gebührenfinanzierten Inhalte nicht in einer gemeinsamen, mehrsprachigen Mediathek anbieten, die Netflix das Fürchten lehren würde.

Buhrows Ansprache kann zur Ruck­rede der deutschen Rundfunkgeschichte werden. Denn sie drehte sich nicht um Gebührencents, sondern ums Überleben: Wie lässt sich in Zeiten scheinbar kostenloser digitaler Rundumbespaßung ein acht Milliarden Euro teurer Wellnessclub für eitle Bürokraten legitimieren? Oder, sachlicher: Was kann, darf, muss gebührenfinanzierter Rundfunk im globalen Ringen zwischen Demokratien und Autokratien, zwischen simplem Fake und komplexer Wirklichkeit leisten? Welche Verbündeten hat ein System eigentlich noch, dessen Fortbestand fast überall in Europa diskutiert wird? Ist das wichtig oder kann das weg?

Der Fall Schlesinger sorgte für Aufsehen

Verbissen hatten die Sender solche Fragen bisher weggeschoben. Gemurre über den öffentlich-rechtlichen Betrieb kam praktischerweise vor allem von der AfD, womit sich Kritik als irgendwie rechts und undemokratisch abtun ließ. Seit dem Fall RBB/Patricia Schlesingeraber murrt das ganze Land: fette Pensionen, Einflussnahmen, mangelnde Kontrolle und natürlich die Privilegien. Muss einer wie Tom Buhrow tatsächlich mehr verdienen als der Bundeskanzler?

Die Einzeltäter-Theorie von der abgehobenen Intendantin verfängt nicht länger. Es geht ums System. Und Buhrow wagt die Zukunftsfrage: Kann sich dieses System aus eigener Kraft erneuern? Oder wird die Politik sich eines Tages die Trümmer zur Beute machen, Gebühren abschaffen, die Sender aus Steuergeld finanzieren und damit die Macht übernehmen? Kein Demokrat kann das wollen. Aber den Status quo will auch keiner.

Medienwelt verändert sich dramatisch

Was tun, wenn vor lauter Baustellen der Weg nicht mehr zu sehen ist? Die Sparerei allein hilft ja nicht in einer Medienwelt, die sich dramatisch verändert. Es müssen im laufenden Betrieb gigantische Mittel umgeschichtet, Fürstentümer abgerissen, ganz neue Abläufe und Einheiten gebaut werden, ausgerechnet in digital aufgeheizten Zeiten, die starken, unabhängigen Journalismus dringender denn je brauchen.

Wer je von einem Insider die über Jahrzehnte gepflegten Freund-Feind-Scharmützel eines Funkhauses auseinanderklamüsert bekam, der wundert sich, wie überhaupt noch so viel gute Ware produziert werden kann. Eine Reform kann sich nicht auf Massagesessel beschränken, sondern hat brutalstmöglich Grundsätzliches zu verhandeln, die drei großen Aufgaben der Öffentlich-Rechtlichen.

Sender bedienen sich aus Tageszeitungen

Erstens: Was bedeutet heute Grundversorgung? Zweitens: Wie sieht ein Programm aus, das in dauererregten Zeiten informiert, bildet, unterhält? Drittens: Wie wird politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit gewahrt? Eine vierte Kernfrage, nicht ganz uneigennützig gestellt: Wie wirken gebührenfinanzierte und private Medienanbieter halbwegs fair und gedeihlich zusammen?

Schließlich bedienen Sender sich wie selbstverständlich aus Tageszeitungen, die mit Inflation, Papier- und Energiepreisen kämpfen. Im Kampf um Klicks weiten die Anstalten regelwidrig ihre Onlineangebote aus, die in Suchmaschinen prominenter platziert werden, weil werbefrei. Neue Formate einer Zeitung, etwa Podcasts, haben keine Chance, sobald ein Sender das Erfolgsrezept kopiert und über seine Kanäle bewirbt.

Marketingmacht gewinnt am Ende

Nicht Inhalt gewinnt, sondern Marketingmacht. Es war nicht im Sinne der Erfinder des öffentlich-rechtlichen Prinzips, mit Bürgergeld ausgerechnet jene Medien zu bekämpfen, die die Provinz, das Dorf, den Kiez grundversorgen. Zugleich fehlt eine gemeinsame Strategie für den Umgang mit Globalmonopolisten wie Google oder Twitter.

So mutig Tom Buhrows Diagnose war, sie liefert noch keine Therapie. Und das ist gut so. Denn Impulse kommen kaum aus einer Medialbürokratie, die vor allem den Selbsterhalt zum Ziel hat. Buhrow hat ja recht, wenn er auf Erbhöfe und Rituale hinweist. Aber der Fall RBB zeigt auch, wie schwer der Abschied von Gewohntem fällt.

Neuanfang muss von Sendern angestoßen werden

Ein Neuanfang, ernst gemeint und ernst genommen, kann nur gelingen, wenn er von den Sendern angestoßen, aber dann ausgelagert wird. Zu heikel, zu grundsätzlich sind die Themen, als dass man sie den Apparaten überlassen kann: Warum Werbung, wenn Gebühren fließen? Wie geht die vierte mit der fünften Gewalt im Staate um, den chronisch empörten und manipulationsanfälligen Social-Media-Diensten?

Wie kann eine Aufteilung in bundesweites ZDF und regionale ARD-Anstalten aussehen? Lassen sich die Pensionslasten der Sender in eine Badbank auslagern? Wäre statt des Gebührenmodells eine Kultur-Flatrate sinnvoller, die auch Verlage und Bühnen mitdenkt, eben alles an Kultur, was eine kritische, demokratische Öffentlichkeit braucht?

Welches Medienmodell braucht eine liberale Demokratie?

Vor 40 Jahren, als das Privatfernsehen über Deutschland kam, verlief Medienpolitik weitaus lebhafter; illustre Figuren wie der SPD-Schöngeist Peter Glotz diskutierten auf hohem Niveau über Monopole und Meinungsvielfalt, über Unabhängigkeit und Medienwirkung, über Binnen- und Außenpluralität, aber auch über bestmögliche Ausbildung und faire Vergütung, allesamt Facetten der Kernfrage: Welches Medienmodell braucht eine liberale Demokratie?

Die Kunst besteht nun darin, statt folgenloser Laberrunden einen so verbind­lichen wie transparenten Prozess aufzugleisen, der Bürgerinnen und Journalisten, Wissenschaftlern und Wirtschaftlern, Programmmachern und Verfassungsjuristen tabufrei und ergebnisoffen verhandeln lässt, wie ein moderner öffentlich-rechtlicher Rundfunk auszusehen hat. In einer zweiten, schwierigeren Phase wird der Weg von Alt nach Neu skizziert.

Rundfunk: Buhrow ließ Rede im WDR ausarbeiten

Hart, aber wahr: Das öffentlich-recht­liche System kann nur überleben, wenn es bereit ist, jeden Stein umzudrehen oder umdrehen zu lassen. Das wird schmerzen, kann aber eine immense Signalwirkung für andere verkarstete Bürokratien im Lande entfalten. Es gibt derzeit keinen größeren Dienst an der Demokratie, als den Nachweis ihrer Reformfähigkeit zu erbringen. Übrigens ließ Buhrow eine Rede, die er als Privatmann gehalten haben will, im WDR ausarbeiten und betrommeln. Es wird ein weiter Weg.