Hamburg. Die Regierung möchte die Bürger entlasten – und riskiert eine Menge Unmut in vollen Zügen. „Katastrophale Zustände“ befürchtet.

Auf Sylt geht die Angst um: Wenn in den Sommermonaten eine Reise mit der Deutschen Bahn in Nahverkehrszügen nur noch 9 Euro kostet, erwarten die Insulaner einen Besucheransturm. Ähnlich groß ist die Sorge in Bayern, dass Tagestouristen zu Tausenden in die Berge und zu den Seen ausschwärmen. Schon jetzt sind die Züge in den Sommermonaten mancherorts überfüllt – was aber wird, wenn Reisen gefühlt gar nichts mehr kostet?

Erinnerungen werden wach an das Jahr 1995. Damals wollte die Bahn mit dem „Schönes-Wochenende-Ticket“ ihre Nahverkehrszüge besser auslasten – die Idee ging ziemlich nach hinten los: Die Bahn zur Königin der Nordsee verwandelte sich in einen Ölsardinenexpress, glücklich war, wer einen Stehplatz ergattern konnte, nicht immer gelangten alle Reisenden an Bord. Auf Sylt war Land unter.

Reichen und Schönen sorgen sich um Sylt

Der Star-Figaro und Wahl-Kampener Gerhard Meir schäumte: „Ich war letztes Wochenende dort, es war katastrophal. Sie können sich nicht vorstellen, was da oben los ist. Ich habe Angst um die Insel.“ Und während sich die Reichen und Schönen um ihr Sylt sorgten, lud die Hamburger Strandguerilla Autonome auf die Insel ein. Die eifrig kamen – selbst deutsche Revoluzzer lösen Tickets, wie wir seit Lenin wissen. Er spottete: „Revolution in Deutschland? Das wird nie etwas, wenn diese Deutschen einen Bahnhof stürmen wollen, kaufen die sich noch eine Bahnsteigkarte!“

Matthias Iken ist stellvertretender Chefredakteur beim Hamburger Abendblatt.
Matthias Iken ist stellvertretender Chefredakteur beim Hamburger Abendblatt. © Andreas Laible

Auch für die Bahn ging die Idee kaum auf: Weil viele Kunden die Bummelzüge für Reisen durch das ganze Land nutzten, kannibalisierte sich das Angebot: In den Fernzügen gingen die Nutzerzahlen und damit die Einnahmen zurück. Es ist kein Zufall, dass das Schöne-Wochenende-Ticket schnell teurer wurde und nur noch einen Tag galt.

Netz wurde auf 33.000 Kilometer ausgedünnt

Was 1995 nicht klappte, möchte die Politik 27 Jahre später noch einmal ausprobieren – als „Entlastungspaket“ mit ungewissem Ausgang. Denn anders als heute war die Bahn 1995 gerade erst privatisiert worden und funktionierte noch leidlich. Damit ist es längst mehr oder minder vorbei. Wegen der Privatisierung und des Traums vom Börsengang wurde über Jahrzehnte gespart, bis es quietschte: Beschädigte Schwellen wurden nicht mehr komplett ausgewechselt, sondern nur noch geflickt, die Zahl der Weichen wurden fast halbiert, Wartungsintervalle gestreckt, ganze Strecken stillgelegt.

Bahnkritiker und Autor Arno Luik rechnet vor: Das Netz wurde seit 1994 von 40.475 Kilometer auf 33.000 Kilometer ausgedünnt; von mehr als 11.000 Gleisanschlüssen für Industriebetriebe sind nur gut 2000 übrig geblieben. Wie empfindlich und störanfällig die Infrastruktur des kurz und klein gesparten Konzerns ist, zeigte der Kabelbrand am vergangenen Freitag an der Sternschanze. Da über das 1000-adrige Kupferkabel auch Weichen und Signal gesteuert werden, lief im Nah- und Fernverkehr in ganz Deutschland nichts mehr glatt. Eine Reise wurde zur Geduldsprobe und die Bahn-App zur Satireshow.

Pro-Bahn-Chef fürchtet „katas­trophale Zustände“

Offenbar beschäftigt das Staatsunternehmen ein Kreativteam, das sich an diesem Wochenende immer neue Entschuldigungen ausdenken musste, warum der Zug verspätet oder vielleicht auch gar nicht kommt: Meine App hatte im Angebot: „Verfügbarkeit der Gleise derzeit eingeschränkt“; „Bauarbeiten“, „Reparatur an der Weiche“ und „Tiere auf der Strecke“ – besonders skurril war, dass die Bahn die Tiere schon sieben Stunden vor der Verspätung meldete.

Was passiert, wenn vermutlich Hunderttausende das bereits jetzt überlastete System mit dem 9-Euro-Ticket zusätzlich nutzen werden? Und was, wenn im Sommer wieder irgendwo ein Kabel brennt? Selbst Pro-Bahn-Chef Karl-Peter Naumann, eigentlich ein Anhänger des Billigtickets, fürchtet „katas­trophale Zustände“, „enorme Frust-Si­tuationen“ und „ein Hauen und Stechen“ bei Reisen nach Sylt, in die Alpen oder an die Ostsee. Geht am Ende die Werbekampagne für den umweltfreundlichen öffentlichen Personennahverkehr so richtig nach hinten los?

Hamburger Kritiken: Benzinsteuern werden gesenkt

Oder werden die Neukunden schnell wieder zu Autofahrern? Offenbar hat die Bundesregierung auch daran gedacht: Denn parallel zum 9-Euro-Ticket werden im Sommer für drei Monate die Benzinsteuern um insgesamt rund 35 Cent und die Dieselpreise um 16 Cent gesenkt. Deshalb warnen Tankstellenbetreiber davor, dass Benzin Anfang Juni knapp wird. Klingt komisch? So etwas nennt man in Deutschland Verkehrspolitik.