Hamburg. Der Börsenboom geht an den meisten Deutschen spurlos vorüber. Die USA können als Vorbild dienen.

Zumindest für Aktionäre endete das Horrorjahr 2020 versöhnlich: Während die Wirtschaft darbt, eilten die Weltbörsen von Erfolg zu Erfolg. Am Montag und Dienstag erklomm der Dax neue Rekorde – bis auf 13.903 Punkte stieg der Index.

Und man muss kein großer Prophet sein, dass es dabei nicht bleiben wird. Schon geben Analysten die nächsten Kursziele aus. 14.000, 15.000 – wer bietet mehr? Allerdings muss man fundamental ein paar Fragezeichen hinter der Entwicklung machen.

Das Finanzsystem ist aus dem Lot

Natürlich wird an der Börse, wie es so schön heißt, die Zukunft gehandelt. Aber so viel Zukunft, wie in diesen Börsenkursen steckt, hat es lange nicht gegeben. Manches spricht dafür, dass die Bewertungen längst nicht mehr den Unternehmensdaten geschuldet sind, sondern allein der Politik des billigen Geldes. Die Kurse steigen nicht, weil sich die Anleger für die Firmen begeistern oder in Zukunft üppige Dividenden erwarten, sondern sie kaufen Aktien aufgrund eines Anlagenotstands.

Das Finanzsystem ist aus dem Lot: Für klassische Sparanlagen gibt es keinen Zins mehr, sondern man muss Strafe zahlen. So fließen die Vermögen in Aktien oder Immobilien. Hier gibt es längst die Inflation, die viele befürchten: Welcher Normalverdiener kann sich heute noch ein Haus oder auch nur eine Wohnung in der Hansestadt leisten?

Die Entwicklung ist fatal, auch aus sozialen Gründen: Denn der Graben zwischen den Habenichtsen und Vermögenden tut sich immer weiter auf. Während Omas Sparstrumpf und Enkelchens Sparbuch in der Nullzinswelt von Jahr zu Jahr an Kaufkraft verlieren, während klassische Lebensversicherungen kaum noch Rendite abwerfen, dürfen sich die Besitzer von Aktienfonds und Immobilien glücklich schätzen.

Es steht zu befürchten, dass die Deutschen zu den Verlierern gehören

Anders als in den Krisen zuvor, sind 2020 die Bewertungen gestiegen. Die Politik kann mit den Verwerfungen an den Märkten durchaus leben – für die Finanzpolitik ist es die beste aller Welten: Die Bundesrepublik kann sich verschulden und bekommt noch Geld hinzu: So lassen sich Milliardenprogramme vom Gläubiger finanzieren.

Doch diese Scheinkonjunktur ist auf Sand gebaut: Nicht nur Experten wie der frühere ifo-Chef Hans-Werner Sinn warnen, dass die Aktienportfolios wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen, wenn die Zinsen wieder auf Normalniveau steigen. Keiner weiß, wann das sein wird, aber die Gefahr steht im Raum.

Es steht zu befürchten, dass die Deutschen dann wieder zu den Verlierern gehören: Sie neigen dazu, die Börse erst zu entdecken, wenn die Kurse schon rasant gestiegen sind. Früher sprach man abfällig von der Dienstmädchenhausse, wenn neue Gruppen Aktien entdecken – für die Profis oft ein Zeichen, lieber zu Höchstkursen zu verkaufen.

Blick in die Depots der Deutschen lässt erschaudern

Vielleicht gibt es auch eine Deutschen-Hausse: Bis 2001 stieg der Anteil der Bundesbürger mit Aktien auf ein Rekordhoch. Mit dem Platzen der Blase am Neuen Markt, ging es rasant abwärts, sowohl mit den Kursen als auch mit dem Anteil der Aktionäre. Erst in der Corona-Krise stieg ihre Zahl wieder. Allerdings lässt der Blick in die Depots der Neukunden etwa der Comdirect aus März und April erschaudern.

Sie kauften am liebsten Lufthansa, Wirecard und Shell – viel schlimmer hätten sie es kaum treffen können. Dabei ist eine moderne Volkswirtschaft auf einen gut funktionierenden Kapitalmarkt angewiesen Zwar hat Deutschland einen Anteil von 4,4 Prozent an der globalen Wertschöpfung, ist aber gemessen an der Marktkapitalisierung deutscher Unternehmen von 2,26 Prozent nur ein groß geratener Zwerg.

Apple, die wertvollste Aktie der Welt, ist allein mehr wert als alle 30 Dax-Unternehmen zusammen. Es gibt durchaus erfolgreiche deutsche Unternehmen. Biontech ist eines der bekanntesten – der Impfstoff-Entwickler aus Mainz ist an der Nasdaq gelistet. Der zweite deutsche Hoffnungsträger in der Pandemie, Curevac, ist ebenfalls an die US-Technologiebörse gegangen.

Die US- Anleger freuen sich über eine prächtige Kursentwicklung, die Deutschen schauen staunend über den großen Teich. Auch wenn viele Wachstumsfirmen scheitern, gibt es kaum eine bessere Idee, als das Geld von Anlegern mit innovativen Unternehmern zusammenzubringen. Wer wirklich etwas für den Standort tun möchte, sollte darüber mal nachdenken.