Hamburg. Ein Superwahljahr steht bevor – und die Pandemie mischt die Karten neu. Eine Überraschung ist möglich. Ein Essay von Matthias Iken.

„Mehr als die Vergangenheit interessiert mich die Zukunft, denn in ihr gedenke ich zu leben.“

Albert Einstein

Kann ein Text klüger beginnen als mit Albert Einstein, diesem genialen deutschen Wissenschaftler, den die deutschen Barbaren 1933 verjagten?

Im Jahr 2021 wird es viel um Zukunft gehen, so viel wie lange nicht mehr. Das zu Ende gehende Jahr hat fest gefügte Wahrheiten ins Wanken gebracht. Die Pandemie hat unseren Blick auf das Leben - die Gesellschaft, die Wirtschaft und die Politik - verändert. Der digitale Wandel hat sich dramatisch beschleunigt, die kreative Zerstörung wälzt die Wirtschaft um. Das wird an den Parteien nicht spurlos vorüber gehen. Am 26. September wird ein neuer Bundestag gewählt.

Zumindest eines ist sicher – eine schwarz-rote Bundesregierung, in früheren Zeiten auch als Große Koalition bekannt, bevor sie sich in Schrumpfriesen verwandelt hat – wird es nach diesem Wahltag nicht mehr geben. Beide Parteien haben sich gemeinsam aneinander „abregiert“ – sie haben manches auf den Weg gebracht, die Krise ordentlich gemanagt, aber kein gemeinsames Ziel mehr. Ganz im Gegenteil: Die Union drängt zurück nach rechts, die SPD nach links.

Die demokratischen Ränder integrieren

Erstmals seit 1998 könnte hierzulande ein Lagerwahlkampf „drohen“. Wobei drohen das falsche Wort ist: Für die Demokratie wäre es nur gesund, wenn die beiden ehemaligen Volksparteien sich nicht länger in der Mitte auf den Füßen stehen, sondern ernsthaft versuchten, die demokratischen Ränder zu integrieren. Dabei geht es um Konservative, die unter Angela Merkel in der CDU heimatlos wurden, und um die linken Sozialdemokraten, welche die Schrödersche Agenda 2010 bis heute nicht verwunden haben. Für die radikalen Parteien mag das keine gute Nachricht sein, für die Republik ist sie es durchaus.

Die SPD hat es der Union vorgemacht – mit der überraschenden Wahl von Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken haben sich die Genossen sicherlich nicht für die attraktivsten, zugkräftigsten oder erfahrensten Kandidaten entschieden, aber für eine Standortbestimmung. Die SPD sieht sich links. Zugleich hat die vielgescholtene Doppelspitze zudem ein Erfolgsrezept der Volkspartei früherer Zeiten verstanden: Mit dem Kanzlerkandidaten Olaf Scholz strahlt die SPD zugleich in die Mitte. Wie weit diese Strahlen am Ende fallen, dürfte an der Programmatik liegen - und wie sehr diese am Ende zu dem Pragmatiker Olaf Scholz passt. Allerdings erkennen manche politische Beobachter im freigiebigen Bundesfinanzminister Scholz den wirtschaftsnahen Bürgermeister „König Olaf“ kaum mehr wieder.

CDU: Möglich, dass sich die drei Kandidaten lähmen

Friedrich Merz, seine CDU-KOnkurrenten und eine mögliche Grünen-Konkurrentin, Annalena Baerbock.
Friedrich Merz, seine CDU-KOnkurrenten und eine mögliche Grünen-Konkurrentin, Annalena Baerbock. © HA

Während die SPD ihren Kompass schon gefunden hat, ist die CDU noch auf der Suche. Und dabei kann die erfolgreichste deutsche Volkspartei durchaus noch von Pfad abkommen: Die „Neue Zürcher Zeitung“ fragte dieser Tage, was die CDU eigentlich für eine Partei sei. „Ist sie noch eine bürgerlich-liberale Kraft? Oder hat sie sich beim Versuch, das Kanzleramt nicht aus der Hand zu geben, so sehr bemüht, die Themen der linken Parteien ‚abzuräumen‘, dass sie inzwischen selbst dazugehört?“

Lesen Sie auch

Würde man die Kandidaten für den Parteivorsitz fragen, dürfte man sehr unterschiedliche Antworten bekommen. Armin Laschet, Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen steht eher für ein geschmeidiges „Weiter so“, Friedrich Merz ist eine menschgewordene Kurskorrektur. Beide sind klug genug, auch die jeweils anderen Flügel einzubeziehen: Der 59-jährige Laschet hat schon im Landtagswahlkampf 2017 auf unterschiedliche Charakterköpfe gesetzt und die Breite der Partei berücksichtigt; Merz kennt seine strategische Schwäche und wird die linksliberale Flanke schließen.

Friedrich Merz – der Blackrocker

Gerade in der veröffentlichten Meinung aber wird es der 65-jährige Sauerländer schwer haben: Dürften Leitartikler und Korrespondenten allein bestimmen, wäre Merz chancenlos. Etwas abziehbildartig wird da der Millionär, der Blackrocker, der Reaktionäre ins Bild gerückt, der nicht einmal mit Anne Will gendern will. Doch den Vorsitzenden einer konservativen Partei wählen immer noch die CDU-Delegierten. Und da dürfte der Wiedereinsteiger eher die Herzen und Köpfe gewinnen. Bleibt es beim Dreikampf, ist Merz der Favorit: Auf einem Online-Parteitag haben es die Büchsenspanner und Hinterzimmerstrategen schwerer, die 2018 Annegret Kramp-Karrenbauer ins Amt kämpften.

Und anders als vor dem CDU-Parteitag in Hamburg geht der oft etwas hölzerne Merz dieses Mal schon jetzt persönlich auf die Delegierten zu. Anders als 2018 scheinen auch seine Gegner leichter schlagbar. Armin Laschets Corona-Bilanz fällt eher durchwachsen aus, für die Reformer ist er nicht überzeugend genug, für die Traditionalisten eine Verlängerung der in ihren Augen unseligen Merkel-Ära. Der frühere Bundesumweltminister Norbert Röttgen kann rhetorisch, intellektuell und persönlich überzeugen, zu viele verbinden mit ihm aber nur die Wahlniederlage 2012 und den Rauswurf durch Angela Merkel danach. Mit dieser Vita mag man in der SPD Karriere machen können, nicht aber bei der CDU.

Markus Söder oder Jens Spahn als Reservekandidaten

Möglich bleibt, dass sich alle drei Kandidaten gegenseitig so lähmen, dass die Stunde der beiden Beobachter mit den besseren Siegeschancen schlägt: Ein geschwächter Vorsitzende wird doch nach Bayern schielen und zum Frühstück nach Franken reisen müssen, um Markus Söder zum Kanzlerkandidaten zu küren — oder Bundesgesundheitsminister Jens Spahn zieht doch noch auf der Ziellinie an allen vorbei. Stand jetzt hätten Spahn und Söder die besten Aussichten auf einen Wahlsieg. In der jüngsten Umfrage ist der 40-jährige Westfale sogar der beliebteste Politiker in Deutschland, auch Söder kommt als zupackender Landeschef bei den Deutschen gut an.

Doch Corona kann diese Stimmungslage noch kippen - wenn es größere Probleme bei den Impfungen und der Impfstoffverteilung gibt, könnte dies auf den Bundesgesundheitsminister zurückfallen. Wie sagte Spahn im November: „Ich könnte es als deutscher Gesundheitsminister jedenfalls schwer erklären, wenn in anderen Regionen der Welt ein in Deutschland produzierter Impfstoff schneller verimpft würde als in Deutschland selbst.“ Stimmen die kolportierten Zahlen, könnten bis Ende März in den USA fast 200 Millionen Impfdosen von Biontech und Moderna zur Verfügung stehen, in Deutschland rechnet der Gesundheitsminister mit elf bis 13 Millionen Impfdosen. Auf Spahn und die Regierung könnten noch hässliche Fragen zukommen.

Parteitag der CDU im Januar

Da werden sich einige freuen, dass der CDU-Parteitag schon Mitte Januar ansteht. Die Wahl der Delegierten wird nicht nur die Union prägen, sondern auch großen Einfluss auf die Wahlerfolge der kleineren Parteien bei der Bundestagswahl im September haben: Ein Friedrich Merz könnte beispielsweise die strauchelnden Liberalen unter die Fünf-Prozent-Marke drücken. Auch die AfD wird leiden, wenn die Union wieder ein konservatives Publikum anspricht. Aber das Protestpotenzial dürfte für die Populisten reichen – die AfD wird Probleme anprangern, ohne Lösungen anzubieten.

Und Probleme gibt es 2021 zuhauf: Die Spitzenthemen werden wirtschaftspolitischer Natur sein. Die großen Wirtschaftsforschungsinstitute haben ihre Wachstumsprognosen schon zurückgenommen – und auch die kalkulierten vier Prozent wirken angesichts einer erwarteten Verlängerung des Herunterfahrens noch viel zu optimistisch sein. Zudem werden die Kollateralschäden der Monate im Lockdown erst mit Verzögerung deutlich werden: es wird mehr Pleiten geben, die Arbeitslosigkeit wird steigen, die wirtschaftlichen Verwerfungen werden offenbar werden. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung rechnet mit Wohlstandseinbußen bis jetzt von 213 Milliarden Euro – am Ende könnte es fast doppelt so viel werden. Auch sonst läuft die deutsche Wirtschaft nicht rund: Die Automobilbranche kämpft mit Problemen, die selbstverschuldet sind, aber politisch verschärft werden.

Die Zeit des einfachen Regierens ist vorbei

Die Feuerkraft der Bazooka ist endlich. Milliardenrettungspakete sind schnell geschnürt, die Gegenfinanzierung aber wird ungleich schwieriger. An Steuererhöhungen und Verteilungskämpfen führt wohl kein Weg vorbei. Je tiefer die Krise, desto stärker blicken Wählerinnen und Wähler auf die Wirtschaftskompetenz der Parteien. Das könnte zu einem Ass im Ärmel eines Kandidaten Friedrich Merz werden.

Die größte Unbekannte im Blick auf das Jahr 2021 sind die Grünen: Sie haben unter Corona besonders gelitten. Notierten die Grünen in der guten alten Zeit vor Corona in Umfragen noch bei 25 bis 27 Prozent, sind sie derzeit bei rund 20 Prozent angekommen.

Nach derzeitigem Stand darf man davon ausgehen, dass Annalena Baerbock als Kanzlerkandidatin in den Wahlkampf zieht: Sie startete nach ihrer Wahl zur Co-Parteivorsitzende 2018 als Außenseiterin und ist inzwischen an dem Spitzengrünen Robert Habeck vorbeigezogen. Baerbock bringt einige Trümpfe mit: Sie ist mit ihren 40 Jahren jung, unverbraucht, erfrischend unideologisch und gilt manchen vermutlich als die perfekte Merkel-Erbin. Sie kann wie einst Gerhard Schröder bis in die Mitte hinein ausgreifen. „Der Kampf um die Merkel-WählerInnen, die mit beinhartem Marktliberalismus ebenso fremdeln wie mit Merz‘ schneidiger Ich-Bezogenheit, wäre offen“, schreibt die taz zurecht. Ob Baerbock aber Krisenkanzlerin kann, steht noch dahin.

Annalena Baerbock: Chancen und was der Grünen droht

Zudem fehlt ihr eine realistische Machtperspektive: Es ist schier unvorstellbar, dass die Grünen vor der CDU landen – derzeit ist die Union in Umfragen fast doppelt so stark wie die Ökopartei. Sollte sich das Kräfteverhältnis drehen, bliebe in der CDU/CSU kein Stein auf dem anderen – die Wahlverlierer würden sich niemals als Juniorpartnerin den Grünen andienen. Das Argument, in Baden-Württemberg hätte die CDU genau das doch 2016 vorgemacht, überzeugt wenig. Verpasst die Union bei der Landtagswahl am 14. März in Stuttgart die Rückkehr an die Macht, wird sie dieses Modell nicht in Berlin wiederholen. Gewinnt hingegen die Stuttgarter Kultusministerin Susanne Eisenmann für die CDU, dürfte das den Trend zugunsten der Union und zuungunsten der Grünen festigen. Verliert Kretschmann, hat auch Baerbock schlechte Karten.

Der Union kommen die drei Landtagswahlen im März – abgesehen von Sachsen-Anhalt – nicht ungelegen: Auch in Rheinland-Pfalz starten die Konservativen als Herausforderer gegen die Amtsinhaberin Malu Dreyer. Trügen die Umfragen nicht, dürfte die SPD-Spitzenpolitikerin deutliche Einbußen kassieren. Die Schockwellen wären dann auch in Berlin zu spüren.

Ebenso schwer vorstellbar ist eine grün-rot-rote Regierung nach der Bundestagswahl. Mathematisch wäre ein Bündnis des linken Blocks zwar vorstellbar – sein Anteil in den Umfragen liegt bei 41 und 45 Prozent. Fallen die Liberalen aus dem Bundestag, könnten schon 44 Prozent für die absolute Mehrheit langen. Aber allein die realistische Option auf ein grün-rot-rotes Bündnis im Vorfeld des Urnengangs würde die linken Parteien etliche Stimmen kosten.

Die Wirtschaftskrise spielt der Union in die Hände

Wenn schon Altvordere wie Joschka Fischer eindringlich von einem solchen Bündnis warnen, wer soll dann noch die Grünen wählen? Zumal auch die SPD nur davon alpträumt, aus der Rolle des Juniorpartners der Union in die Rolle des Juniorpartners der Grünen zu wechseln. Eine linke Bundesregierung ginge wohl nur unter sozialdemokratischer Führung. Aber wird Olaf Scholz wirklich vor Annalena Baerbock ins Ziel einlaufen? Bei den Buchmachern gilt das derzeit als krasse Außenseiterwette.

Denn Krisenzeiten sind Zeiten für die Union: Das zeigt nicht nur die Pandemie, welche die Zustimmung der Deutschen für die letzte verbliebene Volkspartei von unter 30 auf knapp 40 katapultiert hat. Damit hat sich die CDU/CSU derzeit ordentlich Winterspeck angefuttert. Zumal die erwartbare Wirtschaftskrise wiederum der Union in die Hände spielt. Die Herausforderungen sind so mannigfaltig, dass die Lust der Wähler auf Experimente überschaubarer wird.

Bei vielen Deutschen dürfte noch ein anderes Argument in der Wahlkabine zum Tragen kommen, das einem Kandidaten Merz nützen wird. Genau das, was seine Kritiker nicht zu Unrecht anprangern, dass der Sauerländer für die Vergangenheit stehe, könnte sich bei manchen in ein unschlagbares Argument wenden - für sie steht Friedrich Merz einfach für die gute alte Zeit.

Damit wären wir wieder bei Einstein.