Wir müssen Brücken über Gräben schlagen, die Wirtschaft ankurbeln, Kreativität freisetzen. Über die Erfahrungen der vergangenen Monate.
Wer den Unterschied zwischen den Jahren 2020 und 2019 erspüren will, musste nur einen Weihnachtsgottesdienst besuchen: Platzten noch vor einem Jahr Kapellen, Kirchen und Kathedralen aus allen Nähten, schritten Maria und Josef nun vor verwaisten Bänken zur Krippe hin, Pfarrer predigten in die Leere des Raums. Vielerorts sagten die Gemeinden ihre Krippenspiele und Christmetten ganz ab - der Glaube, in der Vergangenheit die Zuflucht in schweren Zeiten, hat ausgedient. Im Pandemiejahr 2020 fiel erst Ostern aus - und Weihnachten gleich hinterher. Nicht nur manchen Pfarrer beschleicht die bange Frage, was nach Corona kommt — und was bleibt.
Ein neuer Blick auf die Gesellschaft
Die Pandemie ist ein Zerstörer und Umwälzer, ein Veränderer und Beschleuniger: Nicht alles wird anders, aber nur wenig wird bleiben, wie es war: Das Virus hat sich tief in die Gesellschaft hineingefressen. Es gibt durchaus überraschende Entwicklungen — gerade in den ersten Wochen der Pandemie zeigte sich eine kaum erwartete Solidarität, die Menschen halfen einander, kauften für Kranke oder Risikogruppen ein, unterstützten sich mit Zeit und Geld. Das Spendenvolumen stieg in den ersten Monaten der Pandemie in Deutschland an, im März um 13 Prozent, im April um fünf Prozent und im Mai um sieben Prozent. Die Lebensmittelgutschein-Aktion der Abendblatt-Initiative „Von Mensch zu Mensch“ übertraf alle Erwartungen. Es gibt sie, die Solidarität.
Doch mit der andauernden Krise droht die Gesellschaft in zwei Gruppen zu zerfallen — die der Menschen, für die die Pandemie nur wenig verändert hat — und die, für die Corona das gesamte Leben erschüttert. Wer statt im Büro nun im schmucken Homeoffice mit Blick auf den großen Garten arbeiten darf und ohne Einbußen sein Gehalt pünktlich bezieht, mag mit den Achseln zucken. Wer auf Kredit ein Geschäft gegründet hat und nun vor den Trümmern seiner Existenz steht, für den schwankt längst der Boden unter den Füßen.
Corona ist eine virale Ungerechtigkeit
Wer als Pensionär im eigenen Ferienhaus die Krise überwintert, hat bald vielleicht einiges zu erzählen; wer als Flüchtlingskind wochenlang im Lockdown in der Asylunterkunft hockt, spricht nicht einmal mehr Deutsch. Wer kinderlos lebt, kann sich mit Netflix trösten, wer drei Kinder nebenher betreuen und beschulen muss, findet keine Zeit mehr für Zerstreuung.
Interaktive Karte: Corona in Hamburg und weltweit
Corona ist eine virale Ungerechtigkeit; Besonders trifft diese Pandemie die Mutigen, die Macher, die Leistungsträger, sie trifft die Armen, Einsamen, die Kinderreichen. Sie trifft die Künstler, die nicht mehr auftreten können, sie trifft die Köche und Wirte, die Werber und Händler, die Unternehmer und Soloselbstständigen. Die Rentner und Pensionäre, die Beamten und öffentlich-rechtlichen Journalisten trifft sie hingegen weniger.
Die sogenannten Querdenker-Proteste waren ein erstes Ventil. Doch wie schon in der Flüchtlingskrise wurde der Protest von Beginn an in Politik und Medien diskreditiert: Es geht hier nicht darum, die irren Reichsbürger oder Verschwörungskritiker zu verteidigen — aber gerade zu Beginn des Protestes mochten viele nur die Reichskriegsflaggen sehen, aber nicht die Regenbogenfahnen, nur die Skinheads, nicht die Dreadlocks, nur die Aluhüte, nicht die normalen Bürger.
Querdenker – ein besonderes Phänomen
Ausgrenzen aber hat noch nie geholfen: Man blicke nur in die Studie zur „Politischen Soziologie der Corona-Proteste“ des Basler Soziologen Oliver Nachtwey: Unter den befragten 1150 Querdenkern fanden sich relativ viele Ältere und relativ viele Akademiker. Bei der vergangenen Bundestagswahl gaben 21 Prozent der Befragten ihre Stimmen den Grünen, 17 Prozent der Linken. Die AfD wählten „nur“ 14 Prozent der Befragten. Dabei wird es nicht bleiben: Bei der nächsten Bundestagswahl wollen 30 Prozent die AfD wählen. „Es ist eine Bewegung, die mehr von links kommt, aber stärker nach rechts geht“, sagt Nachtwey. Diese Kollateralschäden für die Gesellschaft könnten dramatisch sein.
Ein neuer Blick auf den anderen
Corona ist ein teuflisches Virus, weil es uns so vieles nimmt, was das Leben lebenswert macht: Der Mitmensch erzeugt in uns plötzlich Angst, der Nächste schrumpft zum Virusträger - wir gehen uns, wo immer wir können, aus dem Weg, wir schlagen Haken, um einander auszuweichen. Natürlich sind die AHA-Regeln richtig und wichtig, aber sie stellen unser in Jahrhunderten gelerntes Zusammenleben auf den Kopf. So wie unser iPhone uns mit Maske nicht mehr zu erkennen vermag, so erkennen wir uns selbst nicht wieder - wir geben uns nicht mehr die Hand, wir nehmen uns nicht mehr in den Arm. Berührungen werden rar. Es wird Norddeutsche geben, die die eingewanderte Küsschen-hier und Küsschen-da-Kultur kaum vermissen, aber in diesem Corona-Jahr ging viel mehr verloren: 2020 geht als Jahr ohne Feste in die Geschichte ein, wer konnte, hat Hochzeiten, Geburtstagsfeiern oder Einweihungspartys verschoben. Ernsthaft verhängten wir Kontaktbeschränkungen sogar für (Klein-)Kinder, die plötzlich keine Kumpel mehr treffen sollen und in der das Kicken auf dem Bolzplatz unter Strafe stand.
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Im März und im November hat die Politik alle Kultur-und Sportstätten, Kneipen und Cafés zugemacht. Auch das war aus Gründen des Infektionsschutzes geboten - aber was machen die jungen Mütter, die sich dort zum Austausch trafen, die Senioren, die zum Stammtisch zusammenkamen, die Skatbrüder und Bridgeschwestern, die Literaturliebhaber und Fußballfans? Weichen sie in die Illegalität privater Räume aus oder in die soziale Vereinsamung? Ja, wie geht es den Menschen eigentlich, die sich vor dem Virus schützen? Früher schmückte der Satz von Cicely Saunders, Begründerin der modernen Hospizbewegung, Postkarten und Poster und galt als Altersweisheit: „Es geht nicht darum, dem Leben mehr Tage zu geben, sondern den Tagen mehr Leben.“ Man kann auch zugespitzt fragen: Verschwenden wir unsere Tage, um länger zu leben? Das Durchschnittsalter der Corona-Toten liegt bei 83. Die durchschnittliche Lebenserwartung hierzulande bei 81 Jahren. Das ist kein Argument, die Pandemie laufen zu lassen, aber es ist ein Fakt.
Warum gelang es nicht, die zweite Welle auszubremsen?
Und so klagten eben nicht nur junge Leute, dass man ihnen ein Jahr Leben geraubt hat, sondern auch viele Senioren, dass man ihnen ein Jahr ihres Lebensrestes genommen hat. Wir haben zu wenig diskutiert, wessen es bedarf, um diesen zweiten Lockdown zu verhindern. Warum schafften die ostasiatischen Demokratien, die zweite Welle auszubremsen, woran ganz Europa scheiterte? Warum konnte man dort Masken tragen, während man hierzulande darüber erbittert streitet? Und warum ging es in Ostasien um die zentrale Frage von Leben und Tod — und bei uns um die Wünsche des Datenschutzes?
Ist unsere Gesellschaft zu wenig rücksichtsvoll und solidarisch, aber zu egoistisch? Corona ist auf diesem Kontinent zum Desaster geworden. Selten war unsere europäische Überheblichkeit so deplatziert wie jetzt. Corona ist eine Lehre in Demut.
Ein neuer Blick auf das Leben
Es darf dennoch überraschen, dass eine so genusssüchtige Gesellschaft wie die unsere im März aus Angst vor Corona zur Vollbremsung bereit war. Aus Angst vor dem lebensgefährlichen Virus wurde das Undenkbare nicht nur denkbar, sondern Wirklichkeit: Eine Schulpflicht galt de facto nicht mehr, das kulturelle und geschäftliche Leben erlosch, für mehrere Wochen rollte nicht einmal mehr der Ball, immerhin die angeblich wichtigste Nebensache der Welt. Der Schock über die Pandemie saß tief. Es war Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU), der in einem Interview einen Weckruf wagte: „Aber wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig. Grundrechte beschränken sich gegenseitig. Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen. Die ist unantastbar. Aber sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen.“
Vermutlich hat der lebenskluge 78-Jährige den Menschen deutlich gemacht, was viele in dieser Gesellschaft verdrängt und vergessen haben: Alle Menschen sind sterblich. Dank der großartigen Erfolge der Medizin halten viele ein Sterben diesseits der 80 für ausgeschlossen — und den Tod für einen Skandal. „Media vita in morte sumus“, heißt ein Choral, den wir jahrhundertelang sangen, erst recht, als Martin Luther ihn so geistreich ins Deutsche übersetzte: „Mitten wir im Leben sind / mit dem Tod umfangen.“ Gott ist in dieser Gesellschaft längst verblasst, immer mehr tritt der Staat an seine Stelle. Denn den dürfen wir bei der nächsten Wahl abstrafen. Wir erwarten von der Regierung, dass sie uns vor allen Lebensrisiken schützt, uns vor dem Tod bewahrt - und damit auch vor dem gefährlichen Viru
. Wir unterfordern uns. Aber wir überfordern den Staat.
2010 verfasste Juli Zeh den klugen Roman „Corpus Delicti“, der das Leben in einer Gesundheitsdiktatur beschreibt. Der fürsorgliche Staat hat die Gesundheit der Bürger dort zum Staatsprinzip erhoben - die Freiheit bleibt auf de Strecke. Diese Dystopie ist in den zurückliegenden Monaten näher gerückt. Ernsthaft diskutierten wir Polizeieinsätze in Privatwohnungen, Gottesdienstverbote, Schulschließungen. Nachbarn kontrollieren Nachbarn. Der autoritäre Charakter liegt den Deutschen noch immer näher als die Zumutungen der Freiheit.
Ein neuer Blick auf die Wirtschaft
Für die Freiheit war es ein annus horribilis. Schon zu Beginn der Pandemie wurde die Debatte um die richtige Strategie auf comichafte Formeln wie „Geld oder Leben“ reduziert. Alle Antikapitalisten wärmten sich zunächst am Abschalten der Wirtschaft im Sinne eines höheren Staatsziels. Dabei wurde ein Gegensatz konstruiert, den es so nicht gibt: Die Wirtschaft ist eben keine Parallelwelt, sondern die Basis unserer Welt. Der Kneipier will keine Zuschüsse, sondern Geld verdienen, der Künstler keine Almosen, sondern Applaus und Tantiemen, der Händler keine Überbrückungshilfen, sondern Kunden.
Man hätte durchaus die sozialen und wirtschaftlichen Folgen diskutieren können, aber das überforderte schon viele Zeitgenossen: Dass am Ende McDonalds überlebt, aber nicht der kreative Kneipier, dass Netflix triumphiert und das Kino schließt, dass Amazon Milliardengewinne (natürlich steueroptimiert) erzielt und der Einzelhandel vor einer Pleitewelle steht, hat viel mit Corona zu tun - aber auch einer Unfähigkeit in Politik und Gesellschaft, Zusammenhänge zu erkennen und Strategien zu entwickeln. Es dauert neun Monate, bis die CDU einmal über eine Paketsteuer nachdachte — und damit war sie noch schneller als alle anderen Parteien.
Deutsche Forscher entwickeln den Impfstoff - und die Welt schaut nach London
Auch bei der Bekämpfung der Pandemie sollten sich Antikapitalisten einmal kritisch prüfen. Wer ist es denn, der der Welt derzeit das Licht am Ende des Tunnels schenkt? Es sind kleine, innovative Börsenunternehmen, die in Deutschland jedes Vorurteil schreddern: BioNTech, gegründet von Migrantenkindern, groß gemacht mit dem Wagniskapital von Milliardären, börsennotiert an der Nasdaq in den USA. Was wäre wohl geworden, wenn wir nur staatliche Stellen hätten forschen lassen? Und was für eine verpasste Chance: Deutsche Forscher entwickeln den Impfstoff - und die Welt schaut nach London, wo er zuerst verimpft wird.
Schon die Zulassung durch die europäische Arzneimittelbehörde macht skeptisch: Erst nach Großbritannien, Kanada, den USA und weiteren Staaten genehmigte Europa den Impfstoff aus Mainz - mit drei Wochen Verspätung: „Nachdem bei BioNTech das ganze Jahr Tag und Nacht an der Lösung gearbeitet worden war, konnte man den Eindruck gewinnen, dass es bei der EMA nicht denselben Schwung gibt“, wunderte sich nicht nur BioNTech-Aufsichtsrat Ulirch Wandschneider.
Apropos wundern: Man darf sich auch wundern, dass hierzulande dieser Erfolg nicht für kritische Diskussionen genutzt wird: Offenbar sind die Bedingungen für Forscher und Wissenschaftler viel besser, als wir dachten - warum investieren wir nicht groß in diese Branche? Was hätte man mit dem Bruchteil der Kosten der Mehrwertsteuersenkung hier erreichen können - und wenn es nur der Aufbau von Impfstofffabriken gewesen wäre. Warum schaffen wir nicht eine Infrastruktur aus Kapitalgebern und Business Angels, warum stärken wir nicht die Naturwissenschaften, warum gründen wir nicht eine Börse für diese Firmen?
Am BioNTech-Börsengang haben vor allem US-Investoren prächtig verdient. Aber weder von Finanzminister Olaf Scholz (SPD) noch seinem Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) hat man auch nur einen komplexen Gedanken in diese Richtung vernommen. Sie beschränken sich aufs Weiterreichen der Milliarden.
Ein neuer Blick auf die Zukunft
Teuer wird es - und die Kosten der Pandemie, werden uns noch beschäftigen, wenn junge Leute bei Corona längt wieder an ein mexikanisches Bier denken. Trotzdem ist die Zukunft - das zeigt der Impfstoff - nicht so düster. Man stelle sich einfach mal vor, wie die Welt nun ohne Vakzin aussähe. Was wäre dann hier los? Welche Maßnahmen würden wir diskutieren? Welche Ängste ausstehen?
Es gibt gute Gründe, zuversichtlich zu sein. Vielleicht sind unsere Hirne durch die ganzen Katastrophenfilme der vergangenen Jahre auch schon weichgespült und zukunftsvernebelt. Ob Outbreak oder Armageddon, Independence Day oder The Day after Tomorrow - wir neigen dazu, nur das Dunkle zu sehen und haben unseren Fortschrittsoptimismus längst in Todesangst getauscht.
Unsere Sicht auf die Zeit ist seltsam, schrieb der viel zu früh verstorbene Roger Willemsen in seinem Buch „Wer wir waren“: „Kaum blickten wir in die Vergangenheit, sahen wir nichts als Fortschritt. Kaum blickten wir in die Zukunft, nichts als Niedergang.“ In guten Zeiten mag das eine lässliche Sünde sein, in schlechteren Zeiten wirkt sie fatal: Unverzagt in die Zukunft zu blicken ist die klügere Variante als den Kopf in den Sand zu stecken. Herausfordernd wird das Jahr 2021 — es gilt, Brücken über die Gräben der Gesellschaft zu schlagen, es gilt, die Wirtschaft anzukurbeln und Kreativität freizusetzen, es gilt solidarisch die Finanzlücken zu stopfen und uns nach dem Jahr des Abstandhaltens 2021 wieder näherzukommen.
Wie wusste schon Erich Kästner:
„Wirds besser? Wirds schlimmer? fragt man alljährlich. Seien wir ehrlich: Leben ist immer lebensgefährlich“