Na ja, jedenfalls gleichzeitig. Einige Erlebnisse aus meinem sehr hellhörigen Zuhause mitten in Hamburg.

Jeden Morgen um 6.30 Uhr vibriert es über der Decke im Schlafzimmer. Dreimal. Dann ist es wieder still. Mein Nachbar über mir schaltet seinen Wecker aus und steigt in die Dusche. Wenig später höre ich es plätschern. Nach gut fünf Minuten ist er fertig. Und ich drehe mich noch einmal um.

Seit eineinhalb Jahren wohne ich gemeinsam mit meinem Freund in einer Altbauwohnung im zweiten Stock im Herzen von Hamburg. Heutzutage lebt man in einem großen Mietshaus sehr anonym, kaum einer klingelt als Neuling mit einem frisch gebackenen Kuchen an den Haustüren und stellt sich bei jedem Nachbarn persönlich vor (was ich eigentlich sehr schade finde). Eine lange Zeit haben wir deshalb nicht gewusst, wie unsere Nachbarn im Stockwerk über uns aussehen – und hatten trotzdem das Gefühl, sie bestens zu kennen.

Zunächst konnten wir nur anhand der Stimmen mutmaßen, dass über uns ein Mann und eine Frau zusammenleben. Sie schauen am Sonntag gern „Tatort“ im Fernsehen, daran lässt die markante Anfangsmelodie, die zu uns durch die Decke dröhnt, keinen Zweifel. Besonders praktisch: Wenn wir die Sendung ebenfalls einschalten, fühlen wir uns trotz unseres uralten Fernsehers wie in einem Heimkino mit Dolby-Surround-System. Wir werden sowohl von vorne als auch von oben mit Ton beschallt. Wenn bei uns die Flimmerkiste allerdings nicht läuft, bei unseren Nachbarn aber das „heute journal“ im ZDF, könnte man glauben, Claus Kleber sitzt mitten in unserem Wohnzimmer auf dem Sofa und liest die Nachrichten vor.

Aber wir schauen nicht nur mit unseren Nachbarn gemeinsam Fernsehen – wir duschen auch mit ihnen. Unsere Wohnungen müssen relativ identisch geschnitten und aufgeteilt sein. Wenn ich mir morgens unter der Dusche die Haare shampooniere, höre ich häufig auch oben das Wasser plätschern. Fehlt nur noch, dass einer dem anderen zuruft: „Kannst du mir mal bitte das Duschgel reichen?“

Es ist so hellhörig, dass ich mir manchmal nicht sicher bin, ob bei uns jemand über den Flur läuft oder die Nachbarn bei sich oben. Meinem Freund brülle ich dann immer zu: „Bist du das? Oder veranstalten die oben wieder einen Gehwettbewerb?“ Als würden sie für die Olympischen Spiele im 50-Kilometer-Gehen trainieren, trampeln sie ihren Gang hoch und runter.

Aber ganz ehrlich: Mir gefällt das. Wenn es sich nicht gerade um die italienische Klassikmusik von vorletzter Nacht handelt, höre ich gern Geräusche. Wenn ich mal alleine bin in der Wohnung, gerade abends im Dunkeln, habe ich nie Angst oder bin einsam. Das Zusammenleben fühlt sich wie in einer großen WG an. Irgendjemand ist immer da. Und das ist wunderbar. Besonders wenn man selbst keinen Korkenzieher für die Flasche Wein im Kühlschrank hat und sich einfach einen bei seinen lieben Nachbarn nebenan ausleihen darf (da ich weiß, dass ihr Abendblatt-Abonnenten seid: danke auch noch mal an dieser Stelle!).

Vor einigen Wochen ist es jedenfalls passiert: Wir haben herausgefunden, wer hinter den Stimmen und Gehwettbewerben steckt. Als wir einem Pärchen im Treppenhaus begegnet sind, haben wir so lange vor unserer Haustür gewartet, bis sie tatsächlich den Schlüssel ins Schloss der Wohnung über uns gesteckt haben. Bingo! Die Neugierde ist wohl eine Berufskrankheit.

Aber: Kennen Sie das Gefühl, wenn Sie ein Buch gelesen haben und anschließend den dazugehörigen Film im Kino schauen – aber der Schauspieler ganz anders aussieht, als Sie sich ihn beim Lesen vorgestellt haben? So ungefähr ging es mir. Ich habe mir unseren Nachbarn immer als kräftigen Mann in den 50ern und mit wenig Haaren vorgestellt (fragen Sie mich bitte nicht, warum). Tja, er sieht wie das komplette Gegenteil aus: jung, drahtig, langer Bart.

Obwohl das eine Rätsel gelöst ist, hat unsere Nachbarschaft noch mehr zu bieten. Zum Beispiel: die Nackte. So haben wir liebevoll die Frau aus dem Mietshaus gegenüber getauft. Besonders im vergangenen Sommer hat sie ihre Wohnung geputzt und die Blumen gegossen – so wie Gott sie schuf. Wer konnte es ihr bei den heißen Temperaturen verübeln. Am Ende bleibt nur eine Frage: Was bekommen unsere Nachbarn von uns mit?