Hamburg. Ja, ich bekenne: Ich habe keine einzige Folge von „Game of Thrones“ gesehen. Es gibt tatsächlich ein Leben ohne Streaming.

In meinem Portemonnaie bewahre ich ein historisches Erinnerungsstück auf. Jüngere Generationen kennen es nur noch aus Erzählungen. Meine Enkelkinder werden es womöglich einmal im Museum neben dem Nokia-Handy und der Digitalkamera besichtigen können. Zwischen meinem Führerschein und der Budni-Kundenkarte steckt ein Überbleibsel aus einer längst vergangenen Zeit: ein Videothek-Ausweis.

Während meiner Schulzeit habe ich mir mit Freunden fast jedes Wochenende DVDs ausgeliehen und Filmabende veranstaltet. Heute kämpfen Videotheken ums Überleben, im offiziellen Portal der Stadt werden nur noch acht Adressen in Hamburg gelistet. Die Traditionsunternehmen haben ihre Kunden an Streaming-Riesen wie Netflix verloren. Filme und Serien werden von Jung und ebenso Alt fast ausschließlich online geschaut. Mit einer Ausnahme: Ich scheine so ziemlich der einzige Mensch auf diesem Planeten zu sein, der kein Netflix abonniert hat.

„Wie bitte, du hast kein Netflix?!“, fragen mich die meisten Freunde und Bekannte fassungslos, wenn ich ihnen beichte, dass ich noch nie eine Folge von „Game of Thrones“ gesehen habe – als hätte ich ihnen offenbart, dass ich in einer Wellblechhütte im Rantzauer Forst ohne fließend Wasser und Strom leben würde.

Es gibt ein Leben ohne Serien

Ende März registrierte Netflix weltweit mehr als 149 Millionen bezahlte Mitgliedschaften, in Deutschland sind es rund fünf Millionen. Nicht zu vergessen: Die Zweit- und Drittgucker, die kostenlosen Zugriff auf einen Account haben, sind noch nicht in der Erfassung eingerechnet. Die tatsächliche Zahl der Zuschauer dürfte also weitaus höher sein. Zudem gibt es neben Netflix noch weitere Suchtgefahren wie Amazon Prime oder Maxdome. Ganz neu ist die Plattform Joyn von ProSiebenSat.1.

Der Markt boomt. Netflix hat im vergangenen Jahr fast 16 Milliarden US-Dollar Umsatz gemacht. Aber soll ich Ihnen ein Geheimnis verraten: Mir geht es auch ohne „Game of Thrones“, „House of Cards“ und „Stranger Things“ gut. Es gibt tatsächlich ein Leben ohne Serien. Auch wenn es für die meisten Menschen nicht mehr vorstellbar ist. Netflix hat die Welt revolutioniert. Freunde von mir hängen nächtelang vor dem Stream und duellieren sich, wer am schnellsten alle Staffeln einer neuen Produktion durchgesehen hat.

Nicht selten tauchen sie am nächsten Tag bei der Arbeit mit dicken Augenringen auf. Wie mir ein Kollege erklärt hat, spielt der Streaming-Anbieter die nächste Folge einer Serie automatisch nach nur wenigen Sekunden Pause ab. In dieser Zeit muss der Zuschauer also bewusst die Entscheidung treffen, auf Stopp zu drücken. Ansonsten verwandelt er sich in einen schlaflosen Zombie.

Geht Sozialleben mit Netflix

Der Gründer von Netflix, Reed Hastings, sagte einmal: „Unser größter Konkurrent ist der Schlaf. Aber wir gewinnen.“ Solche Sätze sind faszinierend und unheimlich zugleich. Sie zeigen, welche Macht Technologien inzwischen über unser Leben haben. Einerseits füllen sie unseren Alltag und bieten uns Unterhaltung. Andererseits fressen sie unsere Zeit auf und lassen uns die echte Welt verpassen. Zugegeben, ich gerate immer öfter in Versuchung. Ich habe bereits darüber nachgedacht, mich im Fitnessstudio meines Freundes anzumelden. Dort ist nämlich Netflix in den Bildschirmen der Laufbänder und Stepper integriert. Vielleicht würde ich dann endlich öfter zum Sport gehen.

Und: Natürlich frage ich mich, was ich versäume, wenn auf jeder Grillparty, in der Bahn und im Radio über die letzte Staffel von „Game of Thrones“ (die offenbar ein enttäuschendes Ende hatte?!) gesprochen wird. Das Netz dreht durch vor Angst, jemand könnte spoilern und zu früh Details des Serienfinales verraten. Sind wir jetzt alle bekloppt geworden?

So viel steht fest: Netflix würde mein Sozialleben bei einem ohnehin schon vollgestopften Terminkalender zusammenbrechen lassen. Das ist wohl der Hauptgrund für meinen Verzicht.

Aber: Zu meiner Schulzeit, als wir uns noch DVDs in der Videothek ausgeliehen haben, galt jemand als langweilig, wenn er keinen Alkohol getrunken hat. So wie ein Kumpel damals. Heute bin ich uncool, weil ich kein Netflix gucke. Was soll ich sagen? Mein Schulfreund trinkt uns inzwischen alle unter den Tisch ...