Emotionen zu kanalisieren, ist eine Frage des Respekts, findet Alexander Laux. Ein Plädoyer für das Aufheben des Klatschverbots.
In Fußballstadien ist es so einfach: Wenn beim HSV Kyriakos Papadopoulos seinen Gegenspieler unsanft umgrätscht oder St. Paulis Cenk Sahin eines seiner gewagten Dribblings ansetzt, wird auf den Rängen wahlweise gejohlt und gestöhnt. Nach Toren brüllen sich die Fans auf mehr als 100 Dezibel hoch, was dem Lärm eines Presslufthammers entspricht. Freude, Wut oder Frust sofort herauszulassen sorgt für die so reizvolle Atmosphäre.
Am Donnerstagabend war alles anders. Rollenwechsel. Der Sportreporter hat den Plastikschalensitz gegen einen weich gepolsterten Sessel in Reihe fünf, Platz eins der Elbphilharmonie getauscht. Wie eine Elfe schwebt die zarte Mitsuko Uchida mit ihrem seidenen Umhang auf ihren goldenen Schuhen auf die Bühne und lässt die Finger beim Mozart-Konzert für Klavier und Orchester (G-Dur KV 453) mit einer Leichtigkeit über die Tasten tanzen, die jedem den Atem rauben muss, der selbst klassischen Unterricht genoss.
Als die letzten Klänge des ersten Satzes einer mehrsekündigen Stille weichen, können und wollen einige Besucher ihre aufgestauten Emotionen nicht mehr zurückhalten – sie fangen an zu klatschen, werden aber mit einer eindeutigen Geste der Pianistin zum Schweigen gebracht. Applaudiert wird gefälligst am Ende, niemals zwischendurch. So sind nun mal die Regeln.
Aber muss das so bleiben?
Hamburgs neues Konzerthaus bietet sich mit seinem intimen Ambiente und dem so feingliedrigen Klangerlebnis geradezu an, die Verbindungsbahnen zwischen Musik und Mensch neu anzulegen. Wem es wirklich ernst ist mit dem postulierten Auftrag, auch Teile der Gesellschaft für ein Kunsterlebnis zu gewinnen, die zuvor selten bis nie im Publikum saßen, der darf sich nicht nur wundern, wenn sich im Laufe der kommenden Monate der Austausch zwischen Artisten und Zuhörern verändert. Er sollte sich freuen.
Wer an dieser Stelle befürchtet, dass der Zauber einer mozartschen Komposition verfliegt, wenn zwischen dem Allegro und Andante mehr als null Dezibel herrschen, der sei beruhigt – niemand wünscht sich das Anschwellen von lauten „Uh-chi-da“-Sprechchören oder ein minutenlanges rhythmisches Klatschen – schon gar nicht, wenn die Musiker offensichtlich noch in den Fängen ihrer Partitur stecken. Diese Sensibilität, wann ein Zuhörer seine aufgestauten Emotionen herauslassen kann und wann er besser still genießen soll, darf jeder Interpret verlangen. In einem Saal, in dem jedes Räuspern wie ein heranziehendes Gewitter klingt, ist aber gerade solch eine Symbiose zwischen Künstler und Publikum möglich und wünschenswert.
Will sich Hochkultur für alle öffnen, braucht es eine Bindung, die Emotionen nicht unterdrückt, sondern sie (an der richtigen Stelle) fördert. Die Antwort auf die Frage, ob geklatscht werden darf, kann deshalb nur lauten: Es ist eine Frage des Spürens und des Respekts – was übrigens genauso auf andere Lärmverursacher zutrifft.
Jeder, der sich eine Karte kauft, geht ein Bündnis für ein Gemeinschaftserlebnis ein. Es ist nicht zu viel verlangt, sich vorher zu erkundigen, ob man Béla Bartók mag. Oder mit seinem Abgang bis zur Pause zu warten. Völlig fehl am Platz ist es, im Schlussapplaus abzuhauen, weil man der Erste an der Garderobe sein will. Wenn es dann, wie am Donnerstag, plötzlich still wird, weil sich Uchida noch mal ans Klavier setzt (ohne „Zugabe“-Rufe), ist das Geklapper der Schuhabsätze fast schlimmer als jeder begeisterte Klatscher.