Richter im Stich gelassen: Schwerkriminelle frei, weil die Justiz überlastet ist – die Verantwortung trägt der Senat
Gerade einmal ein halbes Jahr ist es her, dass sich SPD und Grüne auf einen Koalitionsvertrag geeinigt haben. Viel Konkretes wurde den Hamburgern für die neue Legislaturperiode nicht versprochen, wie schon in der Regierungserklärung vier Jahre zuvor. Vor allem wollte der neue Senat da weitermachen, wo der alte nach eigener Einschätzung aufgehört hatte – und „ordentlich regieren“. Größere Skandale hat sich Rot pur in den zurückliegenden vier Jahren nicht geleistet. Die Folgeregierung hingegen muss schon nach sechs Monaten einen Skandal verantworten, der das Vertrauen in den Rechtsstaat erschüttern lässt.
Ein Richter hat zwei wegen Totschlags verurteilte Cousins laufen lassen, die nach ihrer Verurteilung erst Revision beantragt und dann Haftbeschwerde eingelegt hatten. Begründung: Das Verfahren dauere einfach schon zu lange. Zur Erinnerung: Die beiden Männer Ende 20 sollen einen 22-Jährigen nach erstem Urteil umgebracht haben – er stammte aus einer verfeindeten Familie. Als ob die Freilassung nicht genug wäre: Der Richter hat sogar vorhergesehen, was jetzt eingetreten scheint. Die Haft sei unverzüglich zu beenden, obwohl die Gefahr bestehe, dass „der Angeklagte sich dem Strafverfahren entziehen“ werde, zitiert die „Welt am Sonntag“ den Richter. Für den verurteilten Cousin, deren Opfer auf dem Weg ins Krankenhaus verblutet war, erging übrigens der gleiche Beschluss. Die Entscheidung dieses Richters wird jeden Hamburger in seinem Rechtsempfinden und im Vertrauen in den Rechtsstaat zutiefst verstören. Wie können zwei verurteilte Totschläger, von denen man annimmt, dass sie untertauchen, entlassen werden, nur weil das Verfahren länger dauerte, als es hätte dauern dürfen?
Der eigentliche Skandal aber ist, dass es überhaupt so weit kommen konnte, dass der Richter des Oberlandesgerichts keine andere Wahl als die Entlassung sah. Hamburg habe es versäumt, seiner „verfassungsstaatlichen Ausstattung der Gerichte zu genügen“, schreibt er.
Die Missstände in der Hamburger Justiz sind lange bekannt. Aber warum erkennt offensichtlich nur die Opposition diesen politischen Sprengstoff, nicht aber die Regierung? Strafrichter haben im Frühsommer in einem Brief an den Justizsenator 40 Fälle zusammengetragen, die exemplarisch die Defizite an Hamburgs Gerichten aufzeigen. Die Gerichtspräsidenten, sonst eher vornehm zurückhaltend auftretende und sorgfältig abwägende Top-Juristen, hatten 2014 in einem Brandbrief die Überlastung ihrer Kammern geschildert. Im Jahr davor waren es der Generalstaatsanwalt, der im Ruf steht, jede Kleinigkeit anzuklagen und so die Justiz zusätzlich zu belasten, und sein Leitender Oberstaatsanwalt, die auf die prekäre Personalsituation aufmerksam gemacht hatten. Und. Und. Und. Passiert ist nichts, obwohl die Gefahr latent bestand, Straftäter aufgrund von Verfahrensmängeln oder Zeitverzögerungen laufen lassen zu müssen.
Zumindest die Grünen schienen die Brisanz erkannt zu haben. Sie forderten im Wahlkampf mehr Personal für Gerichte. Nur konnten sie sich gegen die SPD und deren striktes Nein nicht durchsetzen. Die Polizei von Stellenkürzungen auszunehmen, die Gerichte aber nicht, war ein gravierender Fehler. Die Justiz muss so ausgestattet sein oder werden, dass es ihr auch unter schwierigen Bedingungen, bei steigenden Fallzahlen und in immer komplizierteren Verfahren gelingt, zügig zu verhandeln und zu urteilen.
Justitias Mühlen mahlen langsam, aber trefflich fein, heißt ein bekannter Spruch über die Rechtssprechung. Zumindest die erste Hälfte des Spruchs stimmt, wie der aktuelle Skandal zeigt. Sie mahlen sehr langsam.