Abendblatt-Kolumnist Hellmuth Karasek fragt: Lassen sich Schulden wegwählen?
Das Paradoxon (altgriech.), das mir zur Griechenlandkrise einfällt, stammt von Kierkegaard und hat mir ihr – auf den ersten Blick – nicht das Geringste zu tun. Es geht so: „Heirate, und du wirst es bereuen. Heirate nicht, und du wirst es bereuen. Also heirate oder heirate nicht, und du wirst beides bereuen.“
Aber es passt zu Griechenland. Wenn man „Heiraten“ nur durch das Wort „Grexit“ ersetzt, dann hat man den momentanen Salat. Finanzminister Schäuble hat es auf den Punkt gebracht, indem er sagte, dass Grexit und nicht Grexit gleich furchtbare Folgen hätten, also gleich schrecklich sind. Auf gut Griechisch: ein Dilemma.
Spielen wir das Paradox noch einmal durch: Tsipras hat die Griechen in einer Volksabstimmung zu einem Nein für die EU-Finanzbedingungen an Griechenland für weitere Kredite gebeten (Heirate nicht!). Dann hat er mit dieser Mehrheit erklärt, er wolle für die EU-Bedingungen stimmen, obwohl sie noch schlimmer seien als alles, was vorher war (Heirate trotzdem!). Und jetzt sagt er: Ich hasse diese Bedingungen, werde sie aber umsetzen. Notfalls im Herbst mit Neuwahlen korrigieren. Er feiert also das Schlechtere als Triumph und sagt den Griechen: So sind sie eben mit uns, die Scheiß-Europäer. Und Neuwahlen, wenn man das ernst nimmt, bedeutet, dass man Volkesstimme, also das Plebiszit, gegen ein Schuldenaufkommen mobilisieren kann.
Niemand hat das schöner ausgedrückt als der Kabarettist Dieter Nuhr mit einem Twitter- und Facebook-Post: „Meine Familie hat demokratisch abgestimmt. Der Häuserkredit wird nicht zurückgezahlt. Ein Sieg des Volkswillens.“
So weit, so gut. So weit, so schlecht. Denn darauf ist, wie in der neuen digitalen Welt üblich, ein Shitstorm über ihn ausgebrochen. „Faschist“, „Nazi“, „dumm“, „böse“, „bösartig“, „fremdenfeindlich“, das waren noch die geringsten Vorwürfe. Was Genderpolitik-Scherze von Nobelpreisträgern über Frauen im Labor, Hotpants im Schulunterricht, eine Kanzlerin und ein weinendes Flüchtlingsmädchen aus Palästina lostreten: Immer rast ein moderner Pöbel, wie er sich im Mittelalter um den Pranger scharte, durch das Internet.
Dabei hat, um zurück zu Nuhr zu kommen, der griechische Ex-Finanzminister Janis Varoufakis in dem „Zeit“-Artikel „Dr. Schäubles Plan für Europa“ folgendes Statement abgegeben: „Ein oft vergessener Wesenszug liberaler Demokratien ist es, dass über die Legitimität ihrer Gesetze und ihrer Verfassung nicht ihr rechtlicher Inhalt, sondern die Politik entscheidet.“
Das heißt also, wenn man nur wählt, kann man auch Schulden aus der Welt wählen. Dr. Schäuble hat recht: Das Dilemma ist noch paradox.
P. S.: Es gibt wohlweislich keine Verfassung der Erde, in der Volksabstimmungen über Steuern zugelassen sind.