Athen. Nach Annahme des Sparpakets schwankt die Bevölkerung zwischen Enttäuschung, Skepsis und verhaltener Zuversicht
Mit prüfendem Blick überfliegt der Rechtsanwalt Giannis Chatziantoniou die ausgehängten Zeitungen am Kiosk auf dem Kotzia-Platz im Zentrum von Athen. Das einzige Thema auf allen Titelseiten: das klare Votum des griechischen Parlaments für das neue Sparpaket, das den Weg zu neuen, bitter benötigten internationalen Krediten ebnen soll.
„Ich bin nicht zornig“, sagt der 55-Jährige und stellt seine beiden dick gefüllten Aktentaschen neben sich auf dem Boden ab. „Aber ich befürchte, dass sich dieses Maßnahmen-Programm nicht wird umsetzen lassen.“ Das Paket, das am frühen Donnerstagmorgen im Parlament beschlossen wurde, sieht unter anderen höhere Mehrwertsteuern, die Abschaffung der Frührente und die Anhebung des Rentenalters vor.
„Ich bin Firmen-Anwalt“, begründet Chatziantoniou seine skeptische Prognose. „Die Gesellschaft ist in der Krise, die Wirtschaft ist in der Krise. Alle meine Kunden kämpfen mit Problemen. Fast die Hälfte von ihnen ist schon pleite oder steht vor der Liquidation.“ Neue Belastungen seien nicht zu verkraften. Sein Handy klingelt, er nimmt den Anruf entgegen. „Das war wieder eine Firma, die mir mitteilte, dass sie dichtmacht“, sagt er achselzuckend.
Die 33-jährige Sonnenbrillen-Verkäuferin Olga Papai sieht das Ganze gelassener. „Es gab keine andere Lösung“, kommentiert sie das Parlamentsvotum, das die regierende Linkspartei Syriza gegen die ablehnende Haltung von knapp 40 Abweichlern aus den eigenen Reihen nur mit den Stimmen der Opposition durchbrachte. „Da müssen wir jetzt durch. Es wird wieder besser werden, mit der Zeit, vielleicht.“ Die Frau ist als Kind albanischer Einwanderer in Griechenland geboren. Ihre Eltern waren damals noch vor dem Kommunismus geflohen. „Wir spüren Einschnitte, aber wir gaben früher auch ganz gut Geld aus“, sagt sie.
In der Nacht zum Donnerstag protestierten Tausende Menschen vor dem Parlamentsgebäude auf dem Syntagma-Platz, in dem gerade die Sparmaßnahmen erörtert wurden. Dass Molotowcocktails flogen, ein paar Autos in Flammen standen und die Polizei die Demonstranten mit Tränengas vor sich hertrieb, ist aus griechischer Sicht fast schon bittere Tradition bei Debatten über Sparpläne. Nun war es aber das erste Mal, dass die Syriza-Regierung von Alexis Tsipras zum Adressaten dieser Art von Protesten wurde. Unter den Demonstranten waren viele junge Anhänger und Wähler der Linkspartei. „Vor zwei Monaten war noch Hoffnung“, meinte der 19-jährige Chemieingenieur-Student Vassilis. „Doch diese Regierung ist jetzt so wie die vorigen.“
Für Syriza und Tsipras bedeutet die Annahme des Sparpakets eine Zerreißprobe. Der Ministerpräsident regiert mit zwei unterschiedlichen Mehrheiten. Geht es im Parlament um die ungeliebten Sparprogramme, scheren seine extremen Linken aus und überlassen die Mehrheitsbeschaffung der Opposition. Geht es um die üblichen Fragen der Regierung, stehen die Abgeordneten der Rechts-links-Koalition wieder geschlossen wie eine Phalanx der Spartiaten hinter Tsipras, und die Opposition macht wieder das, was eine Opposition eigentlich macht – sie ist grundsätzlich dagegen.
So hatte Tsipras am frühen Donnerstagmorgen bei der Abstimmung über das neue Reform- und Sparprogramm die Regierungsmehrheit praktisch verloren. Es gab 39 Abweichler, die am „Ochi“ – dem Nein aus dem Referendum – festhielten. Damit schrumpfte die Regierungsmehrheit auf 123 Abgeordnete. Dennoch wurde das Programm von einer Mehrheit von 229 der insgesamt 300 Abgeordneten im Athener Parlament gebilligt. Die meisten Oppositionsparteien stimmten nämlich dafür – sprich für den Verbleib Griechenlands im Euroland.
Anschließend spielten sich ungewöhnliche Szenen im Parlament ab. Der Anführer der Abweichler und Chef der linken Plattform in der Syriza-Partei, Energieminister Panagiotis Lafazanis, sah in der ganzen Dramatik überhaupt kein Problem: „Wir werden gemeinsam weitermachen. Wir stützen die Regierung, sind aber gegen die Sparprogramme.“
Gleichzeitig erklärten die Chefs der Opposition, der proeuropäischen Konservativen, Sozialisten und Liberalen, sie würden Tsipras weiterhin bei allen Abstimmungen unterstützen, die für den Verbleib Griechenlands in der Euro-Zone notwendig sind.
Innenminister Nikos Voutsis spricht bereits von Neuwahlen im Herbst
Für Tsipras ist dies eine einmalige Situation. „Er hat zwei Mehrheiten im Parlament, eine für die Finanzen und eine für alle anderen Themen“, kommentierten Analysten im griechischen Rundfunk. Verfassungsexperten meinten, Tsipras habe „theoretisch und formell“ die Regierungsmehrheit nicht verloren. Denn bei der Abstimmung über die Sparmaßnahmen sei es nicht um ein Misstrauensvotum oder die Vertrauensfrage gegangen, hieß es. Allerdings könne das Spiel mit der Wechselmehrheit nicht lange andauern.
Tsipras ließ seinen Regierungssprecher Gabriel Sakellaridis erklären, die Vollendung des Verfahrens für das Hilfsprogramm habe oberste Priorität. Mit dem Riss in der Regierungspartei werde man sich später beschäftigen. Ob Regierungsumbildung oder Neuwahlen im Herbst – von denen Innenminister Nikos Voutsis bereits spricht –, wichtig sei, dass Griechenland bis dahin ein neues, sicheres Hilfsprogramm hat, meinte ein EU-Diplomat.