Hamburg. Sex, Glücksspiel, Kriminalität: Die dreiteilige TV-Doku zeigt Rotlicht-Historie und lässt ehemalige Kiezgrößen von früher erzählen.
Bei „Mucki“ Pinzner muss es enden. Vielleicht, weil die Aufnahmen von der Verhaftung des Kiezkillers schwarz-weiß durchs kollektive Bewusstsein geistern. Pinzner ist pure Reeperbahn-Vergangenheit. Als er, der verhaftete Auftragsmörder, bei einer Vernehmung im Hamburger Polizeipräsidium Amok läuft, endet die Geschichte des alten Kiezes. Danach wurde alles unübersichtlich, Banden und Cliquen zogen seit den 1990er-Jahren in großer Zahl über die Meile. Der Brutalität, die sie an den Tag legten, wurde durch Pinzner, der fünf Milieugrößen umbrachte, der Weg bereitet.
Pinzners wahnsinniges Ende ist der Schlusspunkt in Oliver Schwabes Doku-Dreiteiler „Die Paten von St. Pauli“, der jetzt auf Arte zu sehen ist. In knapp zwei Stunden wird dort von den unschuldigeren Jahren des kleinen Hafenstadtteils erzählt, in dem Sex, Glücksspiel und Kriminalität eine enge Verbindung eingingen. Eines der berühmtesten Amüsierviertel der Welt, das längst historisch geworden ist und dessen Aufstieg und Fall sich längst etwa ein eigenes Museum widmet: Muss da filmisch Denkmalpflege betrieben werden?
Rotlicht-Doku: "Die Paten von St. Pauli" erzählt vom Kiez
Sowieso. St. Pauli ist eine gewaltige Erzählung. Weshalb noch für dieses Jahr die Amazon-Serie „Luden“ angekündigt ist, die fiktiv von den 70er-Jahren auf der Reeperbahn berichtet. „Die Paten von St. Pauli“ könnte eine gute Vorbereitung sein. Es sind Archivbilder aus den Nachkriegsjahren, den flamboyanten Siebzigern, den grauen Achtzigern, die den atmosphärischen Untergrund der Dokumentation liefern.
Dazu kommen illustrierte Zwischenspiele, in denen zeichnerisch die Szenerie und Deals in den „Puffs“ (wie die Betreiber die Etablissements unnachahmlich selbst nennen) und Kneipen ins Bild gesetzt werden. Und natürlich, als Zentrum, die Protagonistinnen und Protagonisten vom Kiez im offenherzigen Gesprächsmodus. Wer St. Pauli verstehen will, der muss die richtigen Leute finden, damit die vor der Kamera erzählen, wie es einst war.
St. Pauli als Mikrokosmos im Wandel der Jahrzehnte
In der Doku ist St. Pauli „Oral History“: Die Geschichten, die den Mikrokosmos ausmachen, sind in diesem wohlbekannt und werden seit Jahrzehnten weitergetragen. Zeitzeugen sind Bordellbetreiber, Huren, Zuhälter, Polizisten, Journalistinnen und Journalisten. Einmal mehr wird deutlich, dass Milieus menschengemacht sind und aus den Plänen und Geschehnissen derer entstehen, die mit Ambition die Szenerie betreten. Die Ambition der Halbwelt-Akteure ist Geld. Aber Milieus unterliegen auch den Zeitläuften und deren Gesetzen. Die Sechziger und Siebziger waren freie, hedonistische Jahre, in denen die Jugendkultur den Kiez eroberte, ohne dass dies die Prostitution krass verändert hätte. In den Achtzigern sorgten dafür umso stärker Koks und Aids für einen Wandel.
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Die Reihe nimmt Atmosphäre, Innenleben und das Sittenbild St. Paulis allgemein in den Blick. In den Gangstern, die sich den Kiez untertan machten, bündelt sich am Ende vor allem auch Kriminalitätsgeschichte.
Die Kiezgrößen von damals: Von der Halb- zur Unterwelt
Zur Aura aus Gefahr und Verdorbenheit, die die glitzernden Lichter des Amüsements einrahmte, gehörten unvermeidlich die Räuberpistolen. Obwohl das dann im Laufe der Zeit nicht mehr Halb-, sondern Unterwelt war. Als in dem sich zuspitzenden Zuhälterkrieg "Chinesen-Fritz" 1981 in der „Ritze“ das Licht ausgepustet wurde, hatten sich die Sitten auf dem Kiez endgültig geändert.
Nachtclub-Impresario Wilfrid Schulz („Der Pate von St. Pauli“) und Immobilien-Mogul Willi Bartels („Der König von St. Pauli“) entstammten noch einer anderen Zeit. Das gilt ebenfalls für die Luden alten Schlags, die sich mit ihren inoffiziellen Vereinigungen („GmbH“, „Nutella-Gang“) eine geschäftliche Machtbasis schufen.
Wiener Peter, Lamborghini-Klaus und Karate-Tommy
St. Pauli war ein ganz eigenes Pflaster mit ungeschriebenen Gesetzen, dessen nicht ganz historisch gewordene Faszination (ist der Kiez, Gentrifizierung und Tourismus hin oder her, nicht immer noch ein gnadenloses Geschäft mit unschönen Seiten?) die Dokumentation befeuert. Die Legenden – immer noch herrlich allein die Namen: Karate-Tommy, Wiener Peter, Lamborghini-Klaus – bleiben genau das: sagenumwobene (Anti-)Helden vom Kiez.
Was eine zu starke Romantisierung des alten St. Paulis angeht, ist sich der Film manchmal selbst verdächtig, und so will er keinen Zweifel daran lassen, dass der Mythos eines Zuhälters wie Klaus Barkowsky, der mit italienischem Sportwagen über die Reeperbahn bretterte, auch der „schöne Klaus“ genannt und zum Vorbild für die Straßenjugend wurde, natürlich mehr als faul war.
"Der schöne Klaus" erzählt selbstgefällig von der Zuhälter-Vergangenheit
Einmal erzählt Barkowsky mit dem Stolz des etablierten Womanizers, dass er zeitweise 15 Frauen für sich anschaffen ließ. Wie er sie ausnutzte, verhehlt er („Habe mich mitschuldig gemacht“) im Nachhinein nicht. Aber die „Rolex für 20.000 Euro“, die hätten seine Huren eben alle getragen, und eine „geile Wohnung mit Kamin“ hätten sie auch gehabt. Es ist, bei der Besichtigung seines früheren Lebens, von Barkowskys Seite auch viel Milde im Spiel. Wenn er selbstgefällig grinst, fängt auch das die Kamera ein.
Dass zur Berufswahl einer Sexarbeiterin das Recht der Selbstbestimmung gehört, verschweigt die Dokumentation nicht, in der es auch um die Mentalitätsgeschichte des Landes geht und nur am Rande um die Geschichte der (Hamburger) Prostitution.
Chefin von Rosi’s Bar sah viele Ganoven kommen und gehen
Hamburger-Berg-Urgestein Rosi McGinnity, der Betreiberin von Rosi’s Bar, ist es vorbehalten, das Thema weibliche Selbstermächtigung auf St. Pauli grundsätzlich zu klären. Sie sei schon emanzipiert gewesen, „als es das Wort noch gar nicht gab“. McGinnity hat alle großen und kleinen Ganoven auf dem Kiez kommen und gehen sehen. Anders als diese ist sie immer noch da.
„Die Paten von St. Pauli“ Teil 1: 20.15 Uhr, Teil 2: 21 Uhr und Teil 3: 21.45 Uhr, Arte. In der Mediathek abrufbar bis zum 5. Juli