Hamburg. Die Woche mit Lanz: Wie Hamburgs Altbürgermeister Verständnis für Russland zeigt – und ein Gast die Rolle des Moderators übernimmt.

Jahrelang wurde er nicht ernst genommen und zum Teil übel verspottet – jetzt hat Markus Lanz „die wirkungsvollste politische Bühne, die es im Fernsehen gibt“ (Giovanni di Lorenzo), wurde für seine Talksendung mit dem Deutschen Fernsehpreis in der Kategorie Information ausgezeichnet. Was ist da passiert? Wie hat Lanz es geschafft, aus seinen viel kritisierten Schwächen („er fällt seinen Gesprächspartnern immer ins Wort“) viel gelobte Stärken („endlich fragt mal einer nach!“) zu machen? Lars Haider will es, wie der Moderator, genau wissen, und sieht sich deshalb ein halbes Jahr jede Sendung an. Hier lesen Sie seine Berichte über das Leben mit Lanz.

22. März (Gäste: die Politiker Katja Kipping, Linke, und Martin Schulz, SPD, sowie Sicherheitsexpertin Florence Gaub und Journalist Robin Alexander)

„Sie haben Wahlkampf gegen die Nato-Ziele gemacht, und das ist ein Teil der Erklärung, warum die Bundeswehr in der Situation ist, die Olaf Scholz jetzt versucht zu beheben.“

„Also, passen Sie mal auf. Das ist wirklich eine Unverfrorenheit. Ich habe erstens nicht Wahlkampf gegen die Nato gemacht …“

„ … gegen die Nato-Ziele.“

„Ich würde meinen Satz gern zu Ende bringen.“

„Wenn Sie Unverfrorenheit sagen, müssen Sie schon richtig zitieren.“

„Aber ich unterbreche Sie auch nicht nach jedem Halbsatz. Ich empfinde das wirklich als eine Frechheit, das muss ich Ihnen sagen. Wenn Sie mich so hart angreifen, müssen Sie die Höflichkeit besitzen, mich wenigstens meine Antwort aussprechen zu lassen.“

Gast übernimmt minutenlang die Moderation

Was sich wie ein typischer Dialog zwischen Markus Lanz und einem Politiker liest, hat diesmal mit dem Moderator nichts zu tun. Der sitzt relativ still daneben, als Robin Alexander, stellvertretender Chefredakteur der „Welt“, und Martin Schulz, ehemaliger Kanzlerkandidat der SPD, aneinandergeraten. Dass ein Gast für wenige Minuten die Rolle des Gastgebers übernimmt, ist ungewöhnlich, und Alexander gehört, wahrscheinlich, weil er schon so oft in der Sendung war, zu den wenigen, bei denen Lanz das durchgehen lässt. Ungefährlich ist eine solche Situation nicht, dass sie aus dem Ruder laufen kann, hat Lanz unter anderem in dem legendären Gespräch mit Sahra Wagenknecht und dem damaligen „Stern“-Journalisten Hans-Ulrich Jörges aus dem Jahr 2014 erlebt, oder bei der Auseinandersetzung zwischen Christian Lindner und David Hasselhoff (!) vor knapp drei Jahren, die der Grund dafür ist, dass der liberale Politiker bis heute jede weitere Einladung von Markus Lanz ablehnt. Aber das ist eine andere Geschichte.

Und Martin Schulz, der nach dem Disput mit Alexander sehr angefressen wirkt, macht einen Punkt, als er Lanz davor warnt, sich bei Versäumnissen der deutschen Verteidigungs- und Außenpolitik auf die SPD einzuschießen: „Abgespeckt hat die Bundeswehr Herr von und zu Guttenberg, der aus dieser Armee ein Sparschwein gemacht hat“, sagt er. „Und sein Nachfolger Herr Jung, und dessen Nachfolgerin Frau von der Leyen, und dessen Nachfolger Herr de Maiziere, und dessen Nachfolgerin Frau Kramp-Karrenbauer.“

Es ist Tag 27 des Ukraine-Krieges, von dem niemand weiß, was daraus wird. Lanz findet, dass „wir alle fahrlässig mit dem Begriff des Dritten Weltkrieges umgehen“, und hat mit Florence Gaub eine Sicherheitsexpertin eingeladen, deren Einschätzungen er „tröstlich findet“, auch und gerade, was die Drohung Wladimir Putins mit Atomwaffen betrifft. Die Analystin vom Institut der Europäischen Union für Sicherheitsstudien sagt: „Putin will den Menschen im Westen Angst machen, die Androhung von nu­klearen Waffen ist ein Teil der Strategie. Nicht die Bombe ist die Waffe, die Angst davor ist die Waffe.“ Und: Sie wolle den Menschen genau diese Angst nehmen, „dass wir alle in einem Atomkrieg untergehen, wird nicht passieren“. Aber: „Wir müssen uns mental und emotional darauf einstellen, dass der Krieg länger dauern wird, als wir wollen, wir werden noch mehr Leid sehen.“ Und: „Russland geht es um eine Vision für die Welt, die anders ist als das, was wir heute haben.“

23. März (Gäste: Sängerin Natalia Klitschko, Ökonom Janis Kluge, Politiker Sebastian Fiedler, Unternehmer Michail Chodorkowski und Journalistin Solomiya Vitvitska)

Normalerweise sitzt auf dem Stuhl links von Markus Lanz immer ein Politiker, in der Regel der Politiker, der mit den härtesten Fragen des Moderators rechnen muss. Marie-Agnes Strack-Zimmermann von der FDP nennt ihn den „Grillstuhl“, und sie muss es wissen, weil sie schon öfter dort gesessen hat. Diesmal bleibt der Stuhl im übertragenen Sinne leer, überraschenderweise hat Lanz weder einen bekannten Politiker noch einen bekannten Journalisten zu Gast, was der Sendung eine andere Dynamik gibt. Die Gäste kommen mehr oder weniger nacheinander dran, es ist eine Reihe von Einzelgesprächen, die mit der Frau beginnt, die jetzt auf dem Stuhl Nummer eins sitzt: Natalia Klitschko ist wieder da, wie bei der großen Live-Sondersendung vor zwei Wochen.

Sie berichtet, dass inzwischen ihre Mutter, ihre Schwester und ihr Neffe in Hamburg angekommen seien. Die Sorgen um ihren Ehemann Vitali Klitschko (Bürgermeister von Kiew), seinen jüngeren Bruder Wladimir und all die anderen Familienangehörigen, die in der Ukraine sind, bleiben. Er kenne Wladimir ein wenig, erzählt Markus Lanz, und „ich erkenne ihn kaum wieder. Da haben sich die Spuren des Krieges in sein Gesicht eingegraben.“ Natalia Klitschko sagt: „Man sieht das Leid, die Trauer und die Wut. Wenn ich die Bilder sehe, denke ich: Die beiden sind echt Krieger und Kämpfer geworden.“

Lanz lässt ein Video von Wladimir Klitschko aus Kiew einspielen

Lanz lässt ein Video von Wladimir Klitschko aus Kiew einspielen, der ehemalige Boxer steht vor einem zerstörten Wohnhaus: „Das tun die russische Armee und die russischen Raketen uns an“, sagt er, um dann direkt in die Kamera zu den Zuschauerinnen und Zuschauern in Deutschland und Europa zu sprechen: „Und das tun Sie uns an, Sie alle, wenn Sie Geschäfte mit Russland machen – das Blut klebt auch an Ihren Händen.“ Es wäre ein guter Moment, um über die Frage zu sprechen, ob es nicht Zeit wäre für das Ende der Öl-, Gas- und Kohlelieferungen aus Russland nach Europa, und „ob wir bereit sind, den Preis dafür zu bezahlen“, wie Janis Kluge von der Stiftung Wissenschaft und Politik sagt.

Es sei nicht unmöglich, ohne die russischen Rohstoffe, selbst ohne das Gas auszukommen, fügt er hinzu, aber Lanz möchte das Thema lieber bei anderer Gelegenheit beleuchten. Was schade ist, weil die folgenden Gespräche mit und über die Rolle der Oligarchen für Putin und seinen Krieg nicht die dringendsten Probleme beleuchten. Der zugeschaltete Michail Chodorkowski, ehemaliger Oligarch, sagt über die Sanktionen des Westens: „Mich wundert, dass sie nicht zu einem logischen Ende geführt werden. Wenn Putin die Ukraine einnimmt, dann ist sein nächster Schritt Polen oder das Baltikum.“

24. März (Gäste: Politiker Klaus von Dohnanyi, SPD, Sicherheitsexpertin Claudia Major, Strategieberater Julius van de Laar und Ökonomin Karen Pittel)

Klaus von Dohnanyi geht nur noch selten in TV-Studios. Dass er für Markus Lanz eine Ausnahme macht, liegt auch daran, dass die Sendung in Hamburg aufgezeichnet wird. Für den ehemaligen Hamburger Bürgermeister und letzten lebenden Minister aus der Regierung von Willy Brandt sind es nur wenige Kilometer von seiner Wohnung zu Lanz.

Dohnanyi ist eine der interessanten Stimmen, wenn es um die Beurteilung des Krieges in der Ukraine geht, nicht nur, weil er kurz vor dem russischen Angriff ein Buch mit dem Titel „Nationale Interessen“ geschrieben hat (das am Tag nach der Sendung an der Spitze der bestverkauften Bücher bei Amazon stehen wird). Der 93-Jährige muss in diesen Tagen immer wieder mit dem Vorwurf leben, (zu viel) Verständnis für Russlands Putin zu haben und die Ursachen für den Krieg auch im Westen zu suchen. Er sagt: „Die Nato-Osterweiterung war von Anfang an ein großes Problem. Sie ist ein Stachel im russischen Selbstbewusstsein. Wenn man das alles weiß, sieht man, dass dort große Fehler gemacht worden sind.“

Oder: „Wir brauchen Verteidigung, wir dürfen aber auf Waffen allein nicht vertrauen. Wir müssen auch verstehen, warum die Krisen entstanden sind.“ Und: „Die Nato hatte in der Vergangenheit eine zu geringe diplomatische Komponente, auf der Seite zu verstehen, weshalb Krisen entstanden sind. Wenn wir nach vorne schauen: Russland wird auch durch Sanktionen nicht verschwinden. Wir brauchen den Versuch eines künftigen Ausgleichs, der uns nicht in die Gefahr eines großen Krieges bringt.“ An dieser Stelle springt die Politikwissenschaftlerin Claudia Major dazwischen und warnt, dass man auf Putins Narrativ nicht hereinfallen dürfe, der Westen habe sich zu wenig um Russlands Belange gekümmert: „Wenn Westeuropa etwas mit enormer Begeisterung gemacht hat, dann war es, den Ausgleich mit Russland zu suchen.“

Der Vorwurf, es habe in dieser Richtung nicht genügend Bemühungen gegeben, sei schlicht falsch und das Kernproblem ein anderes: „Uns in Westeuropa geht es um freie, souveräne Staaten mit freier Bündniswahl, die selbst entscheiden können, was sie wollen, und wo der große Nachbar nicht mitzureden hat. Die Frage ist: Wollen wir das immer noch, oder wollen wir uns auf ein Großmächtekonzert einlassen, wo die Großen das Sagen haben und die Kleinen haben Pech gehabt?“

Dohnanyi: Ich bin doch kein Freund von Putin

Markus Lanz konfrontiert von Dohnanyi mit Zitaten aus dessen Buch und aktuellen Interviews und stellt die Frage, die seit Beginn der Sendung über dem Gespräch wabert. Ist er, wie die „Frankfurter Rundschau“ am nächsten Tag schreiben wird, ein „Putin-Versteher“?

Dohnanyi sagt: „Ich bin doch kein Freund von Putin, ich bin nur der Meinung, dass man mit Krieg und Gewalt gewisse Dinge nicht lösen kann, sondern dass es der Diplomatie und des Verständnisses der anderen Seite bedarf.“

Lanz: „Aber was da immer so mitklingt, ist: Eigentlich sind wir selbst schuld. Und ich habe damit ein Problem. Es gibt genau einen Mann, der an dem Krieg in der Ukraine schuld ist. … Sie übernehmen zum Teil das Narrativ von Putin, wenn Sie schreiben: ‚Warum sollte Putin ein Interesse daran haben, sich die hochnationalistische Ukraine einzuverleiben?“

Dohnanyi: „Das ist meine heutige Einschätzung immer noch.“

Lanz: „Hochnationalistisch. So redet Putin auch.“