Hamburg. “Die Woche mit Lanz“: Ein Irrtum, der Abend für den Frieden – und wenige Sätze, die alles zum Krieg in der Ukraine sagen.

Jahrelang wurde er nicht ernst genommen und zum Teil übel verspottet – jetzt hat Markus Lanz „die wirkungsvollste politische Bühne, die es im Fernsehen gibt“ (Giovanni di Lorenzo), wurde für seine Talksendung mit dem Deutschen Fernsehpreis in der Kategorie Information ausgezeichnet. Was ist da passiert? Wie hat Lanz es geschafft, aus seinen viel kritisierten Schwächen („Er fällt seinen Gesprächspartnern immer ins Wort“) viel gelobte Stärken („Endlich fragt mal einer nach!“) zu machen? Lars Haider will es, wie der Moderator, genau wissen, und sieht sich deshalb ein halbes Jahr jede Sendung an. Hier lesen Sie seine Berichte über das Leben mit Lanz.

Markus Lanz bekommt zu spüren, wie dynamisch die Nachrichtenlage ist

8. März Es ist Tag 13 des Ukraine-Krieges, und Markus Lanz bekommt zu spüren, wie unberechenbar und dynamisch die Nachrichtenlage sein kann. Zu Beginn der Sendung spricht er mit seinen Gästen lange über das Angebot Polens, Kampfjets aus dem eigenen Bestand an die Ukraine zu liefern, allerdings nicht direkt, sondern über die Ramstein Air Base der Amerikaner in Rheinland-Pfalz. Das sei ein Paradigmenwechsel, sagt Lanz, man debattiert über mögliche Folgen, über rote Linien, die aus Sicht Russlands überschritten werden könnten, und sogar über die Frage, wer die polnischen Maschinen eigentlich von Deutschland in die Ukraine bringen soll. „Wir stochern ein wenig im Möglichen, ich weiß nicht, wie das Prozedere ist“, gibt die FDP-Verteidigungsexpertin Marie-Agnes Strack-Zimmermann zu.

Kurz vor dem Ende der Sendung bekommt Markus Lanz aus der Redaktion dann die Information, dass die Amerikaner gar nichts von der Entscheidung der Polen wussten, der Ukraine Kampfflugzeuge zur Verfügung zu stellen.

„Wer wusste nicht von der Entscheidung?“, fragt der Journalist Robin Alexander nach.

„Die Amerikaner“, sagt Lanz.

„Wie? Dann kann das nicht funktionieren“, sagt Alexander.

„Exakt“, sagt Lanz.

Und Strack-Zimmermann, trocken: „Was heißt, dass man erst mal die Quellen prüfen muss, bevor man darüber diskutiert.“

Markus Lanz: Bemerkenswerter Einspielfilm mit Donald Trump

In den 75 Minuten zuvor hat vieles an Lanz-Folgen in den vergangenen Wochen erinnert, nicht nur die Dauergäste Strack-Zimmermann und Alexander, die allein aufgrund ihrer langen Erfahrung in diesem Format die Sendung dominieren. Zum wiederholten Mal geht es um die 5000 Helme, die Deutschland an die Ukraine geliefert hat, und es geht um die Fehler, die wir im Umgang mit Putin gemacht haben.

Vergangenheitsbewältigung, die wenig bringe, sagt die Politikwissenschaftlerin Claudia Major: „Es ist nicht interessant zu gucken, was wir alles falsch gemacht haben. Wir sollten uns stattdessen überlegen, wie wir künftig mit einem konfrontativen Russland umgehen sollten.“ Und, so Lanz, „welchen Preis wir zu zahlen bereit sind“. Der Verzicht auf Gas, Kohle und Öl aus Russland, den Kanzler Olaf Scholz bislang ausgeschlossen hat, könnte Deutschland 0,3 bis 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts kosten, sagt Karen Pittel, Leiterin des ifo Zentrums für Energie, Klima und Ressourcen: „Das wären 800 bis 1000 Euro pro Kopf.“

Ein bemerkenswerter Einspielfilm stammt aus einer Sitzung der Vereinten Nationen in New York aus dem Jahr 2018. Er zeigt einen Politiker, der folgende Sätze sagt: „Deutschland wird total abhängig von russischer Energie werden, wenn es nicht sofort seinen Kurs ändert. Hier in der westlichen Hemisphäre sind wir verpflichtet, unsere Unabhängigkeit vor den Übergriffen expansionistischer ausländischer Mächte zu bewahren.“ Der Politiker hieß Donald Trump, und im Saal ist der damalige deutsche Außenminister Heiko Maas zu sehen, der sich genervt abwendet …

Markus Lanz verliert kein Wort über den Ukraine-Krieg

9. März Es ist Tag 14 des Ukraine-Krieges, und Markus Lanz wird trotzdem kein Wort darüber verlieren. Die heutige Folge ist vor Längerem aufgezeichnet worden, vor der „Zeitenwende“, von der Bundeskanzler Olaf Scholz gesprochen hat, und sie wird jetzt ausgestrahlt, weil die Redaktion sich auf die große Live-Sondersendung am 10. März vorbereiten und das Studio in Hamburg dafür umgebaut werden muss. Und doch passt das nur 45 Minuten dauernde Gespräch mit dem Astronauten Alexander Gerst und dem Wissenschaftsjournalisten Lars Abromeit in die Zeit, weil es um die „Zerbrechlichkeit unseres Planeten“ und die Frage geht, wie Menschen mit Extrem­situationen umgehen.

Markus Lanz kennt diese Extremsituationen selbst sehr gut, er war in der Antarktis und in Grönland unterwegs, und man merkt ihm schnell an, wie nah ihm die heutigen Gäste sind. So nah, dass dem Moderator nach einer guten Viertelstunde etwas passiert, was er sonst tunlichst vermeidet: Er rutscht vom professionellen „Sie“ ins „Du“ und scheint es gar nicht zu merken. Lanz duzt außerhalb des Studios einige seiner Gäste, und mit denen, die häufiger kommen, gibt es auch so etwas wie eine Vertrautheit – nur anmerken lässt er sich das normalerweise nicht.

Das ist diesmal anders, weil das, was Gerst und Abromeit erzählen, viel mit Lanz’ Leben zu tun hat, etwa, wenn der Astronaut von „brutalen Begegnungen“ mit der Realität berichtet oder der Journalist über das Bergsteigen im Himalaya sagt: „Man zweifelt nicht wirklich an sich selber, aber man befragt sich immer wieder selber. Man befragt sich: Will man weitergehen, will man zurück? Wie viel bist du bereit zu leiden? Denn es ist klar: Man muss auch ein bisschen leiden, um überhaupt hochzukommen.“

Es sind Sätze, die von Lanz kommen können, der einmal über das Leben gesagt hat, dass es kein Kampf, sondern „ein brutales Gemetzel“ sei, und der nicht nur seinen politischen Gästen, sondern auch und vor allem sich selbst keine Schwäche durchgehen lässt.

Markus Lanz mit Sondersendung: "Abend für den Frieden“

10. März Die Titelmusik („An guten Tagen“ von Johannes Oerding) ist anders, die Sendezeit ebenfalls, und das passt, weil auch sonst immer weniger so ist, wie es einmal war. Zum ersten Mal in seiner langen Geschichte beginnt Markus Lanz mit seiner Talkshow um 20.15 Uhr, es soll „Ein Abend für den Frieden“ werden, in dem fast 4,2 Millionen Euro Spenden für die Menschen in der Ukraine gesammelt werden. Es wird ein bedrückender, bewegender und eindringlicher TV-Moment, „genau genommen ist es ein Abend für Deutschland“, schreibt die „Süddeutsche Zeitung“.

Die Befindlichkeit der Bürgerinnen und Bürger bringt Lanz in wenigen Sätzen auf den Punkt: „Wie beginnt man so eine Sendung? Vielleicht so: Die nächsten 105 Minuten werden viel erzählen von der hässlichen Fratze der Politik, von Lügen, von unglaublichem Zynismus. Sie werden aber auch von dem Dilemma erzählen, in dem wir alle gerade stecken, und die bittere Wahrheit ist: Wir kriegen dieses Dilemma nicht aufgelöst. Denn natürlich würde jeder den Kindern, Frauen und Männern in der Ukraine helfen wollen, natürlich, mit allen Mitteln und notfalls auch militärisch, um den Kriegsverbrecher Putin zur Rechenschaft zu ziehen. Gleichzeitig aber weiß jeder, der nur ein bisschen bei Verstand ist: Die Gefahr, dass am Ende ganz Europa zum Schlachtfeld wird, ist tatsächlich so groß, wie sie lange nicht mehr war. Wer nichts tut, löst unermessliches Leid aus. Wer eingreift auch. Das ist unser Dilemma, und vielleicht auch die Schuld, mit der wir eines Tages klarkommen müssen.“

Lanz: Natalia Klitschko erzählt von der Flucht ihrer Mutter

Die Sendung ist eigentlich drei Talkshows in einer, jede halbe Stunde wechseln die Gäste, der Vizekanzler ist da, die Bundesinnenminis­terin, der ukrainische Botschafter, der Deutschland Feigheit vorwerfen wird, weil es nicht bereit sei, mehr Waffen zu liefern. Natalia Klitschko, die Frau von Vitali Klitschko, erzählt von der Flucht ihrer 72 Jahre alten Mutter, ihrer Schwester und ihres Neffen, die es nach vier Tagen aus der Ukraine herausgeschafft haben, jetzt in Sicherheit in Budapest sind und bald nach Hamburg kommen werden.

Sie erzählt von ihrem eigenen Haus, in dem sie bereits Vertriebene aufgenommen hat, und vom Haus einer Hamburger Familie, die für drei Wochen im Urlaub in Thailand ist und ihr die Schlüssel gegeben hat, damit sie dort weitere Ukrainer unterbringt. Und sie erzählt, wie sie jeden Morgen auf ihr Handy guckt, ob Wladimir und Vitali Klitschko noch „am Leben sind“.

Wladimir sagt in einer Videobotschaft für die Sendung: „Wir verteidigen nicht die Ukraine, wir verteidigen den Frieden in Europa.“ Katrin Eigendorf, Korrespondentin des ZDF, wird live aus der Ukraine dazu geschaltet, sie spricht über den russischen Angriff auf ein Kinderkrankenhaus in Mariupol: „Ich habe als Kriegsreporterin viel gesehen, aber das, das ist die Sprache des ,Islamischen Staates‘, die ich zuletzt in Kabul erlebt habe. Dass so etwas mitten in Europa passiert, macht mich sprachlos.“

„Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie solche Geschichten hören?“, will Markus Lanz von Bundeswirtschaftsminister und Vizekanzler Robert Habeck wissen.

„Durch den Kopf geht mir: Tust du genug?“, sagt Habeck, und gibt die Antwort wenig später selbst, als er versucht zu begründen, warum Deutschland auf die Energielieferungen aus Russland, auf Öl, Kohle und vor allem Gas, nicht verzichten kann, noch nicht: „Wir würden es als Gesellschaft nicht lange durchhalten“, sagt er, und deshalb fließt die Energie weiter von Russland nach Deutschland und das Geld dafür in die andere Richtung: „Das ist eine rationale, keine emotionale Entscheidung“, sagt Habeck. „Und wenn Sie mir alle den Kopf waschen, haben Sie einen Punkt.“

Markus Lanz: Migrationsforscher ist zu Stammgast geworden

Gerald Knaus ist auch wieder bei Lanz, der Migrationsforscher ist zu einem Stammgast geworden. Seit Kriegsbeginn seien schon 2,4 Millionen Menschen aus der Ukraine geflohen, sagt er, und: „Ich bin mir nicht sicher, ob sich alle bewusst sind, was das heißt. Es könnten auch zehn Millionen Flüchtlinge werden.“

Menschen, die gestern noch ein ganz normales Leben gehabt hätten – so wie Tatjana. Sie erzählt in einem Einspielfilm: „Ich kann das Gefühl gar nicht beschreiben, wie es mir geht. Ich war Managerin in einer internationalen Firma. Ich hatte alles, was ich brauche, für mich und mein Kind. Privatschule, Auto, tolle Wohnung in Kiew, gutes Einkommen. Jetzt habe ich gar nichts hier und weiß nicht, was ich tun soll.“