Hamburg. Seit Montag geistert eine herrenlose Hose durch das Programm der ARD und sorgt für Wirbel bei Facebook und Twitter.

„Die sozialen Medien werden einen deutlich größeren Stellenwert bei der Nachrichtenvermittlung bekommen.“ Das postulierte Kai Gniffke, Erster Chefredakteur von ARD-aktuell, vor knapp zwei Wochen im Blog der „Tagesschau“. Und kündigte an, dass man sich künftig trauen würde, „unter der Marke Tagesschau auch mal etwas auszuprobieren“.

Beiden Worten ließ er schnell Taten folgen: Seit Montag geistert eine Hose durch das Programm der ARD. Erst war sie in den „Tagesthemen“ zu sehen, dann im „Morgenmagazin“, im „Mittagsmagazin“, im Klatsch- und Tratsch-Format „Brisant“ und ganz besonders: bei Facebook und Twitter. Screenshots der herrenlosen Beinkleider kursieren dort, mit Mutmaßungen darüber, ob „Two And A Half Men“ jetzt bei den „Tagesthemen“ einziehen würden, ob es eine Panne im virtuellen Studio (das nicht virtuell ist, sondern äußerst real) gegeben habe und darüber, ob im Ersten künftig nur noch „halbe Stellen“ ausgeschrieben würden.

Das Ziel, Aufmerksamkeit auch abseits der bestehenden Zuschauergruppen zu generieren, haben Gniffke und Co. definitiv erreicht. Auch wenn man den Spannungsbogen eventuell ein Stück weit überspannte: Noch am Donnerstagnachmittag war nicht letztendlich klar, was es denn nun mit der durchs Programm wandelnden, weniger telegenen Hälfte eines Nachrichtensprechers auf sich hat. Obwohl das am Mittwochabend – bei Facebook, wo sonst – veröffentlichte Video ziemlich eindeutige Hinweise gibt. Unter dem Titel „Die neue Beinfreiheit“ tanzt die Moderatorenriege der Hauptausgabe der ARD-Nachrichten Can-Can. Nicht in Person, sondern als digital montierte Köpfe auf den Körpern einer Gruppe Tänzerinnen. Am Schluss dann der Spruch: „Der ganze Mensch – die ganze Wahrheit: Tagesschau“.

Auch bei Brisant geisterte die herrenlose Hose herum
Auch bei Brisant geisterte die herrenlose Hose herum © ARD | ARD

Man geht also vermutlich nicht ganz falsch in der Annahme, dass die seit mehr als 60 Jahren kaum veränderte Darreichungsform der Hauptnachrichten im Ersten etwas dynamisiert wird, die Sprecher künftig nicht mehr als Damen und Herren ohne Unterleib auftreten, sondern als vollständige Personen. Das funktioniert jetzt schon bei den „Tagesthemen“, wo die Moderatoren bereits seit einiger Zeit Freigang haben. Und dafür ist das im Frühjahr 2014 eröffnete neue Nachrichtenstudio in Hamburg-Lokstedt auch gedacht: Es gibt eine fast 18 Meter breite Medienwand, es gibt Kameras an Roboterarmen, die noch den behendesten Moderatoren problemlos folgen können.

Während man sich als klassisch sozialisierter Nachrichtenkonsument, für den der 20-Uhr-Gong ganz selbstverständlich zum Tagesablauf gehört, unter Umständen fragt, ob die „Tagesschau“ diese „Tagesshow“ wirklich nötig hat, kommt das Rätselraten bei denen gut an, die aller Wahrscheinlichkeit die eigentliche Zielgruppe sind: die viel beschworenen „digital natives“, für die der Fernseher nur ein Abspielgerät unter vielen ist, die sich vom Programmschema nicht ihr Medienverhalten diktieren lassen wollen.

Dass parallel zur PR-Aktion, die bei Twitter schnell das Hashtag „#hosengate“ verpasst bekam, Linda Zervakis am Mittwoch auch noch eine „Zurück in die Zukunft“-Ausgabe der „Tagesschau“ moderierte, dürfte dem digitalen Ansehen der „alten Dame“ unter den Nachrichtenformaten ebenfalls nicht geschadet haben. Bedenken, dass der Ausflug ins leichtere Fach der Seriosität der dienstältesten und beliebtesten Nachrichtensendung Schaden zufügen könnte, hatte der Erste Chefredakteur bereits bei der Vorstellung des neuen, bunteren Studios entgegengehalten, dass man „keine Angst vor Emotionen“ habe, so lange sie dem journalistischen Zweck dienen würden.

Damals bezog er das auf die neue, intensivere Bildsprache, die durch die Medienwand ermöglicht wurde. Und mit etwas Wohlwollen kann man zu diesem Zweck auch den aktuellen Versuch rechnen, einmal über den ernsthaften Tellerrand der Nachrichten zu schauen, um mit ein wenig Augenzwinkern diejenigen zu erreichen, die der „Tagesschau“ bisher skeptisch bis ignorant gegenüberstanden.