Hamburger Fraktionschefin springt ihrem FDP-Parteifreund bei und kritisiert den „Stern“. Merkel wirbt für professionellen Umgang.
Hamburg/Berlin. Die Veröffentlichung eines „Stern“-Artikels über angebliche anzügliche Äußerungen von FDP-Fraktionschef Rainer Brüderle gegenüber einer Mitarbeiterin des Magazins wird unter Politikern und auch im Internet weiter heftig diskutiert.
Während Hamburgs FDP-Fraktionschefin Katja Suding den „Stern“ für seinen Bericht kritisiert, wirbt Kanzlerin Angela Merkel (CDU) angesichts der Sexismusvorwürfe gegen Brüderle für einen professionellen Umgang zwischen Politikern und Journalisten.
„Die Bundeskanzlerin steht selbstverständlich für einen menschlich professionellen und respektvollen Umgang in der Politik wie auch zwischen Politikern und Medienvertretern“, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert am Freitag in Berlin. Zu dem Artikel des Magazins „Stern“, in dem Brüderle anzügliche Anspielungen gegenüber einer Journalistin vorgeworfen werden, wollte sich Seibert nicht äußern und verwies auf die Pressefreiheit. Die Bundesregierung arbeite gut mit dem FDP-Fraktionschef zusammen.
Eine Sprecherin des Bundesfrauenministeriums erklärte, sexuelle Belästigung sollte, unabhängig vom Einzelfall, als Dauerthema diskutiert werden. Es gebe eine hohe Zahl von Frauen, die damit konfrontiert seien. Sie verwies auf eine von dem Ministerium in Auftrag gegebene Studie aus dem Jahr 2004. Danach gaben 58 Prozent der befragten Frauen an, mindestens einmal Opfer von sexueller Belästigung geworden zu sein, davon 42 Prozent am Arbeitsplatz. Die Sprecherin betonte, man verfüge nicht über genügend Informationen, um den aktuellen Fall Brüderle beurteilen zu können.
Suding: Bericht hat eher dem „Stern“ geschadet
Hamburgs FDP-Fraktionschefin Suding kritisierte den „Stern“. „Ich wundere mich über den Zeitpunkt der Veröffentlichung und die offensichtlich damit verbundene Intention“, sagte die 37 Jahre alte Politikerin am Freitag.
„Stern“-Reporterin Laura Himmelreich hatte unter dem Titel „Der Herrenwitz“ über eine Begegnung mit Brüderle beim Dreikönigstreffen vor einem Jahr berichtet. „Die Diskussion läuft ja noch, aber im Moment habe ich den Eindruck, der Bericht hat eher dem ‚Stern‘ als Rainer Brüderle geschadet.“
Rainer Brüderle selbst wollte sich auch am Freitag nicht zu dem Vorgang äußern. Dagegen breitet sich in der Medien- und Onlinewelt die Debatte über den „Stern“-Artikel wie ein Lauffeuer aus. Auf dem Kurznachrichtendienst Twitter kochten am Tag nach Veröffentlichung bei vielen Usern die Emotionen weiter hoch, die Zeitungen berichten reihenweise über den Fall und immer mehr Journalisten melden sich zu Wort.
Der Journalistinnenbund hält den Bericht über die mutmaßliche Zudringlichkeit Brüderles für einschneidend. Die Vorsitzende der Vereinigung, Andrea Ernst, sagte der Nachrichtenagentur dapd, dass der Artikel enorm dazu beiträgt, dass sich das Verhältnis zwischen traditionsreichen Parteien und Presse verändern werde.
Altherrenrunden müssen Distanz lernen
„Denn allzu große Nähe, Anzüglichkeiten und Übergriffe werden öffentlich. Für die Altherrenrunden der politischen Macht ist das besonders schmerzlich. Sie müssen ab nun professionelle Distanz lernen“, betonte Ernst. „taz“-Chefredakteurin Ines Pohl äußerte sich ähnlich. Die Berichterstattung werde dazu führen, dass sich Politiker künftig genauer überlegen, ob sie sich abfällig an eine Frau heranmachen, sagte sie am Freitag im Deutschlandfunk.
In dem mehrseitigen Porträt über Brüderle beschreibt die „Stern“-Journalistin Laura Himmelreich eine Situation vor gut einem Jahr, in der der 67-Jährige auf ihre Brüste geschaut und gesagt haben soll: „Sie können ein Dirndl auch ausfüllen.“ Zudem soll er ihre Hand genommen, diese geküsst und im Verlauf des Gesprächs gesagt haben: „Politiker verfallen doch alle Journalistinnen.“ Mitte des Monats hatte bereits eine Autorin von „Spiegel Online“ über frauenfeindliche Szenen im politischen Alltag der Piratenpartei berichtet.
„Unglaublich mutig“
Die Autorin Ursula Kosser sprang der Autorin dagegen bei. „Es ist schlichtweg unfair, ihr vorzuwerfen, sie hätte das doch direkt vor einem Jahr machen können“, sagte sie am Freitag im Deutschlandfunk. Himmelreich hätte zunächst überprüfen müssen, ob es sich bei dem Verhalten des Politikers um einen einmaligen „Ausrutscher“ gehandelt habe.
Dass sie sich entschlossen habe, die Geschichte jetzt zu schreiben, halte sie für „unglaublich mutig“, sagte Kosser. Die ehemalige Spiegel-Journalistin hatte im Jahr 2012 das Buch „Hammelsprünge“ veröffentlicht, in dem sie die Beziehung von Sex und Macht in der Bonner Republik schildert.
Auf Twitter kochten derweil die Emotionen weiter hoch und gehen weit über die Personalie Brüderles hinaus: Unter dem Hashtag #aufschrei etwa tauschen die Nutzer des Onlinedienstes seit Donnerstagnachmittag ihre Erfahrungen mit alltäglichem Sexismus aus. Mal handeln sie etwa von aufdringlichen Professoren, mal von beleidigenden Polizisten oder schamlosen Ärzten.