Hamburg . Trotz erneuten Besucherrekords hat das Musikfestival auf St. Pauli zum zehnten Jubiläum seinen Entdeckercharme behalten.

Groß ist es geworden, das Reeperbahn Festival. „Wir haben unseren Underdog-Status definitiv verloren“, sagt Chef und Gründer Alexander Schulz in seinem Fazit zum zehnten Jubiläum der Konzert-Sause auf St. Pauli. Mit 32.000 Pop-Fans, darunter 3700 Konferenz-Teilnehmer und Medienvertreter aus 40 Ländern, konnte das Festival im Vergleich zum Vorjahr noch einmal um 2000 Gäste zulegen. Für 37.000 Besucher hätte die Kapazität an den vier Festival-Tagen mit 400 Konzerten und 220 Business-Veranstaltungen sowie Kunstausstellungen, Filmvorführungen, Lesungen und Preisverleihungen an mehr als 70 Orten gereicht, bilanzierte Schulz.

Magische Musikmomente statt Mainstream-Einerlei

Die Fülle war auch unterhalb der hundertprozentigen Auslastung in und vor den Clubs auf dem Kiez deutlich zu spüren. Einlass-Stop gab es selbst an entlegenen neuen Festival-Spielstätten wie dem Michel, wo der amerikanische Singer-Songwriter William Fitzsimmons seine sehnsuchtsvollen Oden durchs Kirchenschiff schickte.

Es sind magische Musikmomente wie diese, die stets erneut dafür sorgen, dass das wachsende Festival keineswegs zum event-spektakeligen Mainstream-Einerlei gerät. Dafür sind die meisten Clubs zu klein, die Bands zu unbekannt, ist das Publikum zu musikverliebt. Immer wieder sind Gruppen von Konzertgängern zu beobachten, die den Festivalplan studieren und diskutieren, als befänden sie sich auf einer Forschungsreise.

Mitunter teilen sich diese Teams, um sich später wieder zu treffen und von ihren wilden und tollen, aber auch dem ein oder anderen enttäuschenden Erlebnis zu berichten. Der Sound bei den kanadischen Indie-Rockern Half Moon Run in der Freiheit ist schepperig-schlecht? Dann schnell rüber ins Indra, wo die irische Jungsband The Academic den Britpop aufs Schönste wiederbelebt. Auffällig ist: Je länger das Festival andauert und je müder die Besucher sind, desto euphorischer scheinen sie zu sein. Als habe man sich Nacht für Nacht mehr in dieser anderen Welt eingerichtet. In diesem Leben von Konzert zu Konzert.

Ein 3-D-Rundgang durchs neue Klubhaus St. Pauli:

Acht Stunden Anfahrt für eine Stunde Konzert

Und dann stehen da die Cliquen und Paare und Einzelgänger am Sonnabendnachmittag im Hinterhof des Molotow. Und während sie noch ein wenig verpeilt in ihre Bierbecher gucken, sorgen die überaus coolen Musikerinnen der britischen Band Pins mit ihrem verschleppten Ramones- und ­Riot-Grrrrl-Sound für dieses besondere Gefühl in der Magengrube. Jenes, das einem sagt, dass das Leben aufregend und gut ist. „What will we do / when our dreams come true?“, fragt Sängerin Faith Vern lakonisch. Wenn Träume wahr werden, dann steht zum Beispiel ein blutjunger Fan in der ersten Reihe vor der Bühne des Kukuun, um den australischen Rapper Seth Sentry zuzujubeln, nachdem er acht Stunden mit dem Bus nach Hamburg gefahren ist. Nur für diese knappe Stunde Konzert. Und wenn Träume wahr werden, dann reist eine tanzende Menge mit dem New Yorker Eli Paperboy Reed im Mojo zurück in die Soul-Ära der 60er-Jahre.

Spaß machen auch all jene Situationen, wo nichts und doch alles zusammenzupassen scheint, zum Beispiel wenn die Band Isolation Berlin im St. Pauli Fanshop auf der Reeperbahn höchst schroff von der Entfremdung vom eigenen Körper singt und schreit, während einige Zuhörer die Gelegenheit nutzen, um Fan-Ware wie etwa Ringel-Sweatshirts zu kaufen.

Und dann erzählt da noch einer: „Ich hatte das ganze Festival über meine Ohrstöpsel nicht drin, weil das war alles so ...“ Und dann ballt er einfach die Hände zu Fäusten und grinst. So ist das.

11. Reeperbahn Festival 21.– 24.09.2016, Gastland: Niederlande, Vorverkauf; reeperbahnfestival.com