Das Reeperbahn Festival zeigt: Live-Musik boomt – und gehört zur Identität Hamburgs

Worum geht es eigentlich, wenn wir Musik hören? Um nicht weniger doch als das Leben. Das Lieben. Das Leiden. Das Schöne. Das Schräge. Pop überhöht diese Gefühle, intensiviert sie, lockt sie mitunter erst hervor. Doch da ist noch mehr. In einer Welt, in der vieles virtueller, ja unwirklicher und unübersichtlicher zu werden scheint, verlangt es ganz offensichtlich immer mehr Menschen danach, Musik zu erleben, während sie entsteht. Vor Ort. Live und leibhaftig.

Bei der zehnten Ausgabe des Reeperbahn Festivals ist diese Sehnsucht erneut überdeutlich zu spüren. Wenn 30.000 Pop-Fans bei mehr als 400 Konzerten vor den Bühnen der Stadt dicht an dicht stehen, singen, ausrasten. Wenn sich noch der kleinste Raum mit Energie auflädt, die zwischen Band und Publikum hin und her flippert. Wenn der Boden klebt und die Luft brennt. Rock ’n’ Roll ist dreckig – muss es sein. Tanzschweiß und Freudentränen lassen sich nicht streamen. Das Smartphone ist zu glatt für Gänsehaut.

Den Wunsch nach Authentizität belegt auch die Studie „Musikwirtschaft in Deutschland“, die im Rahmen des Reeperbahn Festivals veröffentlicht wurde. Livemusik boomt. Mit 27 Prozent an der gesamten Bruttowertschöpfung der Musikwirtschaft liegt das Geschäft mit Konzerten um satte fünf Prozent vor dem Handel mit aufgenommener Musik. Und Hamburg kann dieses Bedürfnis nach Erleben, nach Miteinander, nach dem Sound im Hier und Jetzt mit seiner dichten Musikclub-Szene besonders gut bedienen. Ein einzigartiger Schatz ist das.

Natürlich feiert die Szene auf dem Reeperbahn Festival auch sich selbst. Das ist auch mehr als gut so. Was jedoch nicht bedeutet, dass alle bloß besoffen vor Glück (und Bier) über die geile Meile taumeln. Dafür ist das Wissen zu groß um die Hürden und Auflagen, die Umzüge und Selbstausbeutungen, die mit dem Club-Geschäft verbunden sind. Die Aufgabe der Stadt ist es, einen bewussten wie beherzten Balanceakt zu vollführen: Es gilt, einerseits verlässliche Rahmenbedingungen für Hamburgs Musikschaffende zu erzeugen – und andererseits Freiräume zu ermöglichen. Ganz so, wie es der Slogan der jüngsten Kampagne von Kulturbehörde und Hamburg Marketing besagt, die nun für den Kulturmarken-Award 2015 nominiert worden ist: „Große Freiheit für große Kultur“.

Zu beachten ist allerdings, dass diese große Kultur oftmals von den sogenannten Kleinen kommt. Von Mini-Plattenfirmen und Betreibern kleiner Kaschemmen, von Ein-Frau-Booking-Firmen und Zwei-Mann-Promotion-Agenturen. Der Großteil der Musik-Unternehmen, gut 60 Prozent, hat einen Jah­res­umsatz von unter 100.000 Euro. Anders formuliert: Die Stärke liegt unten. Diesen Durchhaltern sollte große Dankbarkeit zuteil werden für viel vergossenes Herzblut. Denn sie alle sorgen maßgeblich mit dafür, dass sie den Hörer erreicht, die „Kraft der Musik“, von der Carsten Brosda bei seiner Festival-Rede so eindrücklich sprach.

Der Medien-Bevollmächtigte des Senats erläuterte, wozu Musik imstande ist. Für ihn sind all die Pop-Künstler, die noch bis Sonnabendnacht auf St. Pauli zusammenkommen, Teil des ersten Eindrucks, den Besucher von Hamburg haben. Und mit diesen Gästen meint der Politiker nicht nur jene, die für das Festival an die Elbe reisen, um zu feiern und Geschäfte zu machen. Er bezieht explizit jene mit ein, die hier Zuflucht suchen, um später einmal wieder unbeschwert zu feiern und Geschäfte machen zu können. Pop-Künstler sprächen für dieses „helle Deutschland“, das die Menschen willkommen heißt, führte Brosda aus. Bands können den Soundtrack liefern zu einer offenen Geisteshaltung. Ihre Kunst kann Halt bieten und Menschen verbinden. All das kann Musik. Hinhören jedoch, das muss jeder selbst.

Seite 25 Auf der Reeperbahn nachts um halb zwölf