Hamburg . Der Musiker tourt mit einer Lesung der berühmten Novelle „Der Schimmelreiter“ durch den Norden. Start ist auf Sylt.

Populär geworden ist Stefan Gwildis mit Soul-Klassikern in deutscher Sprache. Das aktuelle Projekt des Hamburger Sängers beschäftigt sich mit Theodor Storm. Gwildis hat ein Hörbuch mit der Novelle „Der Schimmelreiter“ aufgenommen, für das er auch Lieder geschrieben hat. Mit Hagen Kuhr (Cello) und Tobias Neumann (Klavier) tourt er damit im Norden, im September auch einmal in der Elbphilharmonie (die Veranstaltung ist ausverkauft). Wir haben mit ihm über Stürme, Gezeiten, Klimawandel und seine Liebe zur Nordsee gesprochen.

Wann ist Ihnen Theodor Storms „Schimmelreiter“ zum ersten Mal begegnet?

Stefan Gwildis: Ich musste es in der Schule lesen. Damals habe ich mich damit ziemlich gequält. Aber ich fand damals schon die Hauptfigur Hauke Haien total interessant, weil er ein Typ ist, der gegen den Strom schwimmt und sich nicht damit zufriedengibt, was die Leute sagen. Er war jemand, der sich die Freiheit nimmt, intuitiv eigene Sachen zu entwickeln und einen eigenen Weg zu gehen. Das ist für jemanden, der sich mit 16 Jahren selbst positionieren muss, wie ich damals, ziemlich cool. Ich hatte die Novelle in meinem Hinterkopf, aber sie war dort viele Jahrzehnte lang gewissermaßen verschollen.

Wie kam es zu diesem Literaturprojekt?

Ich habe schon öfter Lesungen für Kinder mit Märchen aus Russland gemacht und dabei einen Riesenspaß gehabt. Und dann habe ich Sonja Valentin kennengelernt, die Dramaturgin am Ernst Deutsch Theater ist. Sie hat mich zu diesem Leseprojekt ermuntert. Wir haben zuerst über Hemingway und Borchert nachgedacht und kamen dann auf Storm zu sprechen.

Ferien auf Pellworm, Föhr, Amrum und Sylt

Der Heimatgedanke kam durch ...

Ich liebe das Meer und vor allem die Nordsee. Meine Eltern haben mit uns Kindern alle Inseln abgeklappert, weil unser Hausarzt zu meiner Mutter gesagt hat: ,Frau Gwildis, ihre Kinder haben was an den Bronchien, die müssen an die See.‘ Ich habe viele Ferien auf Pellworm, Föhr, Amrum, Sylt und den Halligen verbracht. Weihnachten haben wir manchmal auch dort gefeiert. Ich finde es bis heute spannend dort hinzufahren, besonders wenn es stürmt und kalt ist. Strandsauna bei minus zwei Grad mit Westwind und Schneeregen, das ist geil!

Haben Sie mal eine Sturmflut erlebt?

Ja, 1976 in Hamburg. Da bin ich mit dem Fotoapparat losgezogen. Aber nicht auf den Inseln. Kräftige Stürme habe ich auf Sylt und Amrum genug erlebt.

Sie lesen nicht die ganze Novelle, was etwa dreieinhalb Stunden dauern würde. Welches Konzept steht hinter Ihrem „Schimmelreiter“?

Sonja Valentin hat die Geschichte eingedampft und zusammengestrichen. Das hätte ich mir selbst nie zugetraut, ich bin nicht der belesene Bursche. Wir haben uns gefragt: Worauf kommt es an? Der Charakter von Hauke Haien ist das Wichtigste. Er ist ein Mensch, der forscht und beobachtet, der zuhört, Visionen hat, der liebt und der auch noch ein behindertes Kind hat – im 19. Jahrhundert hieß das beim Volk: Da sitzt der Teufel in der Familie. Haien ist auch jemand, der mit der verkarzten Religion seine Schwierigkeiten hat.

Storm muss Haien untergehen lassen

Ist Hauke Haien eine rundum positive Figur?

Nee, er ist auch ein Besessener. Er schnappt sich zum Beispiel die Katze, die einen Vogel schnappen will und erwürgt sie mit einer Hand. Er scheitert aber letztlich an den Altlasten. Aber Storm als beinharter gläubiger Protestant muss ihn auch untergehen lassen, weil Haien sich nicht Gott unterwirft.

Worin liegt die Aktualität des „Schimmelreiters“?

Ganz klar in der Person von Hauke Haien. Er ist ein Forscher wie Alexander von Humboldt, nur auf regionaler Ebene. Er gönnt es sich, neue Gedanken zu entwickeln. Durch seinen neuen Deich will er der Natur neues Land abtrotzen. Das ist ein positiver Gedanke, weil er es für die Gemeinschaft macht.

Schützen uns die immer höher werdenden Deiche?

Wir sind reich genug, um die Deiche zu erhöhen. Es gibt Länder, die absaufen werden, weil es Idioten wie Trump gibt, die wieder auf Steinkohle setzen. Oder den Klimawandel leugnen. Einzelne Länder werden die globalen Probleme, was Energie und Wasser angeht, nicht lösen. Hauke Haien würde sagen: „Seht zu, dass wir ganz schnell zusammenkommen und ein Ergebnis liefern.“

Alles dreht sich. Da liegt Walzer nahe.

Das Leben an der Küste wird durch den Rhythmus von Ebbe und Flut bestimmt. Ihre Lesung verbinden Sie mit Musik. Was haben Sie komponiert?

Die Gezeiten stehen für eine sich wiederholende Rhythmik. Alles dreht sich. Da liegt Walzer nahe. Für mich läuft da ein Schwarz-Weiß-Film ab. Die Musik sollte nichts mit maritimen Fischerhemden zu tun haben, sondern Haiens Gemütszustand unterstreichen und zu Storms Sprache und Bildhaftigkeit passen.

Eine große Rolle spielt in Storms Erzählung der Aberglaube. Gibt es heute etwas Vergleichbares?

Glücklicherweise nicht mehr. Wenn früher Deiche gebaut wurden, dann musste man da was „Lebiges“ reinpacken, einen Hund oder eine Katze. Haien und auch Storm haben sich gegen diesen Aberglauben aufgelehnt. Ich rieche diese Engstirnigkeit von damals richtig. Aber das sind Bauteile einer Sage, und die gehören dazu.

Am Thalia Theater läuft gerade Johan Simons’ Bearbeitung des „Schimmelreiters“, die auch zum Theatertreffen eingeladen wurde. Haben Sie die Inszenierung gesehen?

Ja. Ich bin ein großer Fan des Thalia Theaters, aber die Inszenierung hat mir nicht gefallen. Ich fand sie zu verkopft. Ich stelle mir eine Dramatisierung ganz anders vor. Da muss Wasser auf der Bühne sein, und man muss die Gewalt der Elemente spüren. Da bricht ein Deich, und Menschen ertrinken!! Das bekommst du allein mit Worten nicht hin.