Hamburg. Der New Yorker Künstler Tom Sachs baut mit „Space Program: Rare Earths“ die spektakulärste Ausstellung seit Jahren.
Tom Sachs ist nervös. Er kann sein dunkelblaues Hemd nicht finden. Aber das ist wichtig, unverzichtbar, jeder im Team hat seine Uniform. „Wenn ich das Hemd nicht trage, während ich mit Journalisten spreche, muss ich einen Dollar Strafe zahlen“, sagt er. Und es ist der erste Moment im Zusammentreffen mit dem amerikanischen Künstler, in dem man nicht sicher ist, ob es ernst oder witzig gemeint ist.
Dass Tom Sachs sein Hemd nicht finden kann, ist nachvollziehbar – immerhin bauen er und seine 17 Studiomitglieder in den Deichtorhallen gerade das „Space Program: Rare Earths“, eine atemberaubende Weltraum-Installation in der Halle für aktuelle Kunst auf –, und es ist ebenso unverständlich bei einem Mann, der den Begriff „knolling“ geprägt hat. In einem früheren Leben entwarf Sachs als Mitarbeiter des amerikanischen Star-Architekten Frank Gehry Möbel für die Firma Knoll. Mit einer ausgeprägten Liebe für Ordnung und Sauberkeit. Aus dieser Zeit stammt „knolling“, es bedeutet so viel wie Ordnung halten, alles im rechten Winkel gestalten.
Studioleiterin Erum Shah hat Sachs’ Uniform gefunden. Großes Aufatmen, das Foto kann geschossen werden. Nun ist Tom Sachs ganz bei sich, guckt selbstsicher in die Kamera wie ein Filmstar. Die Show kann beginnen. Ordnung, das wird ziemlich schnell klar, ist für ihn nicht das halbe Leben. Es ist das ganze.
Sachs war nie im Weltall, er ist besessen davon
Im Hier und Jetzt ist der 1966 in New York geborene Tom Sachs einer der gefragtesten Bildhauer Amerikas, der mit seinen Mixed-Media-Skulpturen weltweit für Aufsehen sorgt. Sie alle sind auffallend handgemacht, liebevoll zusammengebaut aus Sperrholz, Pappe, Harz, Stahl und Keramik. Das Arbeiten mit vorgefundenem Material ist auch als Bricolage-Technik bekannt. Seine Werke befinden sich in den Sammlungen des Solomon R. Guggenheim Museums und des Whitney Museum of American Art in New York, des Centre Georges Pompidou in Paris und des San Francisco Museum of Modern Art.
Tom Sachs ist einer, der seinen Hospitanten mit dem YouTube-Video „Ten Bullits“ Verhaltensregeln vorgibt, wenn sie in seinem New Yorker Studio arbeiten wollen (dazu gehört es ebenso, die Türen leise zu schließen und das Katzenklo sauber zu halten wie den Empfang einer E-Mail oder eines Pakets zu beantworten). Er ist jemand, der Journalisten gerne im Voraus briefen lässt, um aus seiner Sicht überflüssige Fragen zu vermeiden (nein, Tom Sachs war noch nie im Weltall, er ist nur besessen von der Raumfahrt). Er hat die Öffentlichkeit mit einer Chanel-Guillotine und einer Auschwitz-Miniatur in einer Hutschachtel von Prada geschockt und an Galeriebesucher Schweizer Pässe verteilt – als Symbol für ultimative Freiheit und Unabhängigkeit.
Es ist seine Art, an der elitären Kunstszene, am geistlosen Konsumieren Kritik zu üben. Und es gehört zur Gegensätzlichkeit eines Tom Sachs, ebenso selbstverständlich mit Nike einen Mars-Yard-Sneaker zu entwerfen, wovon einige Modelle auf der Sammler-Website Stockx für mehrere Hundert Dollar gehandelt werden. Die in der Ausstellung im Maßstab 1:49 aufgebauten Twin Towers spiegeln zugleich die Liebe, die Sachs für Amerika empfindet, und seine Wut auf die geopolitischen Umstände, die zu den Anschlägen vom 11. September 2001 geführt haben.
Mond, Mars, Europa und jetzt der Asteroid Vesta
Seit 2007 arbeitet Sachs am „Space Program“. Es ist, wenn man so will, eine Adaption des realen Nasa-Raumfahrtprogramms: Im Zentrum der Halle zieht ein riesiges Landemodul die Blicke auf sich, daneben ist ein batteriebetriebener, offener Rover geparkt, mit dem die beiden Astronautinnen (eine Schreinerin und eine Grafikerin aus dem Team) Erkundungsfahrten unternehmen können. Eine Station weiter gelangt man zum Ausgrabungsort, wo mit Spezialwerkzeugen nach „seltenen Erden“ geforscht werden soll, gesteuert vom Mission Control Center. Von den Raumfahranzügen bis zum Quarantänemobil ist alles Handarbeit; Schweißnähte, Dellen, Unebenheiten – all das ist künstlerisches Kalkül.
Die Module der Ausstellung, die in riesigen Containern nach Hamburg gebracht wurden, weisen deutliche Gebrauchsspuren auf. Schon dreimal ist Sachs damit auf Mission gegangen: 2007 ging es in der Gagosian Gallery zum Mond, 2012 in der Park Avenue Armory zum Mars und 2016 im Yerba Buena Center for the Arts zum Jupitermond Europa (im Mondmuseum sind Relikte von den vergangenen Missionen ausgestellt).
Zu seinen Veranstaltungen reisen Fans aus den USA, aus England, Japan und Kanada an. So wird es auch am 18. September sein, dem Activation Day in den Deichtorhallen, bei dem Sachs mit seinem Team nach strengem Nasa-Protokoll den Start seiner Raumfähre zum Asteroiden Vesta im Rahmen einer zwölfstündigen Livedemonstration vollziehen wird.
Wesensverwandlung durch Handyschreddern
Bis zur Ausstellungseröffnung am kommenden Wochenende wird noch emsig geschweißt, gesägt und gehämmert. Ein angenehm temperierter Soundtrack legt sich über das Konglomerat an unterschiedlich lauten und nervenden Geräuschen und verbreitet diese typische amerikanische Leichtigkeit. Es gibt keine Station, an der Sachs nicht kurz verweilt, um die Lage zu checken und gegebenenfalls knappe Anweisungen zu geben. Die ständig an ihn gestellten Fragen, wie und wann etwas noch optimiert, geliefert, angebracht werden soll, pariert er schnell und konzentriert, um sich dann wieder ganz seiner Führung über das Gelände zu widmen.
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Mit großer Hingabe erklärt er das Labor zur Transsubstantiation, in dem Besucher aufgefordert werden, ihr Mobiltelefon zerstören zu lassen, um sich einer Wesensverwandlung zu unterziehen. Auch hier, im scheinbar überladenen Schrein des Handyschredderns, ist alles an seinem Platz, ist alles bedeutsam. Es ist diese Liebe zum Detail, die die Ausstellung so faszinierend macht.
Überhaupt ist Interaktion mit dem Publikum erwünscht. Nach der Begrüßung durch den Flight Director Tom Sachs per Videobotschaft gelangen Besucherinnen und Besucher zur Indoctrination. Hier gilt es, persönliche Fragen zu beantworten und Aufgaben wie etwa das Sortieren von Schrauben zu erfüllen, um Teil des Teams zu werden. Mit einem Pass gelangt man in exklusive Bereiche, kann eine Filmvorführung in einem MRT erleben (Vorsicht, nichts für Klaustrophobe!) oder das Raumschiffsmontagegebäude betreten. Zu den Ritualen des „Space Program“ gehört auch eine Zeremonie im Teegarten: „Sie lässt uns auf eine einfache und stille Weise mit der Natur, mit der Zeit und untereinander in Verbindung treten“, so das Ausstellungsprotokoll. Keine Nervosität, nichts mehr. Alles bereit zur Landung.
„Space Program: Rare Earths“ ab 19.9., Deichtorhallen (U Steinstraße), Deichtorstraße 1–2, Eintritt 12,–/7,– (ermäßigt). Livedemonstration: 18.9., 10.00–22.00, auch auf dem Vorplatz, 2G-Regel, Tickets unter www.deichtorhallen.de