Zum 97. Geburtstag des Altkanzlers präsentiert das Abendblatt ein letztes Werk Schmidts, das sich mit dem Maler Emil Nolde beschäftigt.
Wenige Monate vor seinem Tod hat Helmut Schmidt einen Text geschrieben, bei dem es sich aufgrund der Begleitumstände um ein außergewöhnliches Dokument handelt. Auf Wunsch der Hamburger Kunsthalle verfasste er
das Geleitwort für den Katalog zu der Ausstellung „Nolde in Hamburg“, die am 18. September eröffnet wurde.
Am heutigen 23. Dezember, an Helmut Schmidts 97. Geburtstag, drucken wir mit freundlicher Genehmigung der Kunsthalle seinen wahrscheinlich letzten selbst verfassten Text, in dem Schmidt mit ebenso persönlichen wie präzisen Worten seine tiefe und viele Jahrzehnte währende Bewunderung für den expressionistischen Maler schildert.
Dieser Ausstellung ein Geleitwort mitzugeben, ist mir eine Ehre. Denn ich bin kein Kunstkenner, sondern nur ein Mensch, der sich an Werken der Kunst freuen kann – an Bildern, an Skulpturen und ebenso an Bauwerken. Aber seit mehr als achtzig Jahren bin ich ein Anhänger Noldes, zugleich ein Anhänger des deutschen Expressionismus insgesamt und des ihm vorangehenden französischen Impressionismus.
Mein Verständnis für Kunst verdanke ich der Lichtwark-Schule und besonders John Börnsen, der von Hause aus eigentlich Steinmetz gewesen war, sich aber zu einem wunderbaren Künstler entwickelt hatte. Für uns, seine Schüler, wurden Monet oder Renoir oder Sisley genauso feststehende Begriffe wie Liebermann oder Corinth. Noch um eine kleine Stufe höher stellten wir Kokoschka, Kirchner, Schmidt-Rottluff, Edvard Munch, Paula Modersohn-Becker – und vor allen anderen Emil Nolde, Ernst Barlach und Käthe Kollwitz. Zwar haben wir niemals selbst ein Einziges von ihren Bildern gesehen – immer nur Abbildungen. Wohl aber war es ein richtiger Schock, als im Sommer 1937 in den Zeitungen von der Münchner Ausstellung „Entartete Kunst“ berichtet wurde. Ich war damals achtzehn Jahre alt. Und ich dachte: Die Nazis müssen verrückt sein. Aber es hat dann noch sieben weitere Jahre gedauert, bis ich begriff: Die Führer der Nazis sind nicht bloß verrückt, sondern viel schlimmer – sie sind Verbrecher.
Viele Hamburger besuchen die Ruhestätte von Helmut Schmidt
Heute, fast acht Jahrzehnte nach jener Münchner Ausstellung und siebzig Jahre nach dem Ende des Krieges und der NS-Diktatur, finden wir es völlig normal, in eine Nolde-Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle zu gehen. Und es ist tatsächlich normal. Aber diese Normalität ist in der Zwischenzeit gar nicht selbstverständlich gewesen. Vieles hätte sehr viel schlimmer ausgehen können. In Wahrheit knüpfen wir heute an bei unseren Vorfahren, bei Alfred Lichtwark, bei Justus Brinckmann oder bei Gustav Schiefler; sie alle stammen aus dem 19. Jahrhundert, ebenso wie die Hamburger Kunsthalle. Wir heutigen Hamburger sollten wissen, was alles wir unseren Eltern, unseren Großeltern und unseren Urgroßeltern verdanken.
Emil Nolde, 1867 als Hans Emil Hansen geboren, wurde 88 Jahre alt. Sein Geburtsort war das Dorf Nolde, im damals deutschen Nordschleswig; 1920 wurde nach der Volksabstimmung der Ort dänisch. Hansen wurde dänischer Staatsbürger, fühlte sich aber nach wie vor als Deutscher. Als er 1902 seine dänische Frau Ada Vilstrup heiratete, hat er den Namen Nolde angenommen und anschließend zumeist in Berlin gewohnt. Hier war er 1906 bis 1907 Mitglied der expressionistischen Künstlergruppe „Brücke“. 1908 trat Nolde der Berliner Secession bei, aus der er aber ein Jahr später nach einem Streit mit Max Liebermann ausgeschlossen wurde; dabei mag der Altersunterschied zu dem eine halbe Generation Jüngeren auch eine Rolle gespielt haben. Wichtig ist aber: Seine großen religiösen Bilder sind alle noch vor dem Ersten Weltkrieg im Berliner Atelier gemalt worden. An dieser Stelle muss ich ein Bekenntnis einfügen: Noldes religiöse Bilder, seine bisweilen sogenannten Hauptwerke, haben mich nicht sonderlich berührt. Vielmehr taten dies seine Seestücke, seine Bilder vom Meer, seine Landschaften, seine Grafiken, seine Tuschpinselzeichnungen – und seine „ungemalten Bilder“. Meine Nolde-Begeisterung hatte in der Schulzeit begonnen. Die erste Begegnung mit einem Werk Noldes geschah tatsächlich zufällig, als ich 1948 zwei Tage in London war. Ich stieß auf das Schaufenster eines Antiquariats, in welchem unter anderem eine Nolde’sche Radierung ausgestellt war, ein mit wenigen Strichen dargestellter Schlepper auf der Elbe. Ich war davon elektrisiert und habe alsbald mein Bargeld nachgezählt, ob es wohl reichte. Es war das zweite Mal, dass ich ein Kunstwerk gekauft hatte – es liegt heute beinahe sieben Jahrzehnte zurück, und ich bin Emil Nolde treu geblieben.
Erwähnen möchte ich die Südseereise, die Nolde über Moskau, durch Sibirien, über Korea, China und Japan führte und ihn an vielen Orten zu wunderbaren Tuschpinselzeichnungen inspiriert hat. Jene Reise endete 1914; anschließend sind in den 1920er-Jahren viele Gemälde entstanden, und zugleich ist Nolde wohlhabend geworden. Er ist dann nach Frankreich, nach Großbritannien, nach Spanien und in die Schweiz gereist, auch nach Italien und nach Wien.
In den frühen 1930er-Jahren begann meine persönliche Geschichte mit Emil Nolde, d. h. es begann meine große Neigung. Sehr viel später habe ich als Regierungschef das offizielle Amtszimmer des Bundeskanzlers als Nolde-Zimmer ausgestattet und es auch von außen so bezeichnet. Bei der Ausstattung hat Martin Urban aus Seebüll eine sehr hilfreiche Rolle gespielt. Zugleich habe ich geholfen, die deutschen Expressionisten insgesamt dem amerikanischen Publikum nahezubringen, das 1970 davon kaum Ahnung hatte. Inzwischen sind die Preise im Kunsthandel enorm gestiegen.
Nach meinem Verständnis war Nolde ein Suchender, er suchte nach dem Ursprünglichen, nach dem Leben und Arbeiten fern von den Akademien – ähnlich wie die Franzosen in Barbizon im Wald von Fontainebleau, die Worpsweder im Teufelsmoor, so Nolde an der Ostsee auf Alsen, an der Nordsee in Nordfriesland. Auch der von Leben und Lärm erfüllte Arbeitsalltag im Hamburger Hafen faszinierte ihn. Natürlich berühren mich seine Bilder vom Hamburger Hafen besonders, wie auch viele andere Bilder, die inspiriert waren von Noldes Aufenthalten in Hamburg. Schließlich waren Noldes Motive auch Eindrücke aus einem mir sehr vertrauten Lebenskreis – Schleswig-Holstein, die norddeutschen Küsten, das Meer. Vor allem gefallen mir die souveräne Weglassung des Unwichtigen und die kraftvollen Farben, leuchtend und zugleich nachdenklich-melancholisch stimmend.
Emil Nolde suchte seinen Weg abseits vom etablierten Kunstbetrieb
Für Emil Nolde war „nur außerhalb der Schulmauern lebhaftes Leben“, wie es in seiner Autobiografie heißt. Er suchte seinen Weg abseits vom etablierten Kunstbetrieb, was manchmal mit schweren äußeren Bedingungen verbunden war: Nicht nur im Dritten Reich hat er gelitten, es gab bereits um 1910 Auseinandersetzungen mit der Berliner Secession, was auch mit materieller Not einherging; so manches Bild musste er gegen Milch und Brot eintauschen, um überleben zu können.
Seine besten Arbeiten seien für ihn immer „Selbstüberraschungen“ gewesen – so hat er von sich selbst gesagt. Diese Unberechenbarkeit macht für viele den Reiz seiner Bilder aus. Über die unterschiedlichen Wirkungen seiner Bilder kann man lange nachdenken, sie liegen in der individuellen Vermittlung von Kunst. Nolde selbst sagte 1944: „Die Farben in mir jubeln und weinen, meine Farben. Ich kann nicht wissen, ob auch andere Menschen sie so oder anders empfinden, denn ein jeder ist ein anderer im Sehen, im Verstehen und Empfinden und im Nachempfinden.“
Natürlich war es unvermeidlich, dass es auch eine Kontroverse über Emil Nolde als Nazi geben musste. Und sogar auch kritische Worte über meinen Freund Siggi Lenz, der in seinem Roman „Deutschstunde“ mit dem Maler Max Ludwig Nansen Nolde nachzuzeichnen scheint, jedenfalls ist es vielen Lesern so vorgekommen. Die „Deutschstunde“ bleibt gleichwohl ein bedeutender Roman, weil er Gewissen, Verantwortung und Pflichtgefühl thematisiert. Und die NS-Begeisterung Emil Noldes bleibt gegenüber seiner Kunst ganz unwichtig.
Heute gehört mir ein wunderschönes Blumenaquarell von Nolde. Seine Blumenaquarelle sind zahllos – und jedes einzelne Stück ist wunderbar. Ich wünsche den Hamburgern viel Freude in der Betrachtung seiner wunderbaren Blumenstücke und seiner eindrucksstarken Grafiken vom Hamburger Hafen.
Die Ausstellung
„Nolde in Hamburg“ ist noch bis zum 10. Februar 2016 in der Galerie der Gegenwart der Kunsthalle zu sehen. Während der Feiertage hat die Kunsthalle in diesem Jahr erstmals fast durchgehend geöffnet.
Sonderöffnung über die Weihnachtsfeiertage:
24.12.2015 geschlossen
25.12.2015, 12–18 Uhr 26.12.–30.12.2015, 10–18 Uhr 31.12.2015, 10–1
5 Uhr 1.1.2016, 12–18 Uhr 2.1.–10.1.2016, 10–18 Uhr
Staatsakt für Helmut Schmidt: Die wichtigsten Bilder