San Gusmè. Das Paradies ist immer woanders: Für Hamburgs Theatermacher Ulrich Waller und 68er-Schriftsteller Peter Schneider liegt es in Italien.
Während der Mittagshitze sind die Zikaden so laut, dass man sie bis in den Theatersaal von Castelnuovo Berardenga knarzen hört. „Wir haben gerade alles umgeschmissen“, sagt Ulrich Waller und grinst. „Es ist ein großes Chaos!“ Ihm scheint eben das zu gefallen. „Ancora una volta!“, ruft er. Das Ganze noch einmal! Nervös ist hier keiner, obwohl das, was da während der Probe auf der Bühne zu sehen ist, ganz und gar nicht wirkt, als könne daraus bereits am Folgeabend eine Premiere werden. Die eigentlich in Berlin lebende, aber zum Teil in Italien aufgewachsene Schauspielerin, Autorin und Regisseurin Adriana Altaras übersetzt unermüdlich, mal in die eine und mal in die andere Richtung.
Zum dritten Mal ist das Hamburger St. Pauli Theater in der Toskana zu Gast, wo der Theatermacher Ulrich Waller nicht nur ein ehemaliges Bauernhaus zwischen Weinterrassen und Olivenbäumen besitzt, sondern auch – gemeinsam mit seiner Frau Dania Hohmann und ihrem italienischen Komplizen Matteo Marsan – sein „Theater der Erinnerungen“ gegründet hat. „Il Paradiso è sempre altrove“ heißt das Stück, das das Trio in diesem Sommer erarbeitet. Das Paradies ist immer woanders.
Der Titel könnte stellvertretend für das gesamte Projekt stehen: Mit einer großen Truppe aus deutschen und italienischen Schauspielerinnen und Schauspielern sowie lokalen Laienspielern, den sogenannten „Bruscellanti“, bringt Waller erneut eine ambitionierte deutsch-italienische Szenencollage aus Historie und Musiktheater auf die Freiluftbühne.
St. Pauli Theater in Italien: Das Paradies ist immer woanders
Geprobt wird – schon der hohen Temperaturen wegen – im kommunalen Teatro des benachbarten Casteluovo, gespielt am späten Abend unter freiem Himmel auf der kleinen Piazza des Örtchens San Gusmè in der Provinz Siena. Das Ensemble ist eine wilde Mischung: Wohlbekannte Hamburger Bühnenakteure wie Peter Franke, Anneke Schwabe und Nadja Petri, die auch am Spielbudenplatz regelmäßig auf der Besetzungsliste stehen. Dennis Svensson, der für RTL+ gerade die Serie „Legend of Wacken“ abgedreht hat.
Jörg Kleemann, der lange am Thalia engagiert war und viel Theatermusik macht. Adriana Altaras, die als Tochter jüdischer Partisanen im damaligen Jugoslawien geboren wurde und nicht nur als Schauspielerin, sondern auch als Opernregisseurin gut zu tun hat und nebenbei autofiktionale Bestsellerromane schreibt. Ihre Kollegin Daniela Morozzi, eine bekannte italienische Fernsehkommissarin aus Florenz, die schon beim letzten Mal ihren TV-Partner Gianni Ferreri mitgebracht hatte.
Die Bruscellanti wiederum sind im echten Leben Lastkraftfahrer oder Krankenschwester, Studentinnen oder Zimmermann. Einige haben schon bei den ersten Waller-Projekten „Albicocche rosse – Blutige Aprikosen“ und „La grande gelata“ mitgespielt, zum Teil haben sie einst als Kinderdarsteller begonnen und sind der Compagnie treu geblieben. „Es ist hier alles sehr unwahrscheinlich und wahnsinnig und vielleicht gerade deshalb so passend“, glaubt Ulrich Waller. Viele seiner Weggefährten sind schon seit Jahren dabei, Wallers Theaterfamilie ist treu. Und sie hat ohnehin keine Chance: „Wenn ich gesagt hätte, ich kann diesmal leider nicht – das hätte der Uli gar nicht verstanden“, sagt Adriana Altaras und lacht.
Ulrich Waller lud auch den 68er-Schriftsteller Peter Schneider in die Toskana
In diesem Sommer hat der Regisseur einen weiteren Mitstreiter nach San Gusmè eingeladen, ohne den die aktuelle Inszenierung kaum hätte stattfinden können. Oder jedenfalls: nicht so. Auch wenn dieser Mann selbst bislang weder persönlich mit Ulrich Waller zu tun hatte noch je von dem Toskana-Örtchen San Gusmè oder gar dem „Theater der Erinnerung“ gehört hatte.
Dabei ist diese Verbindung sogar eine naheliegende: Der deutsche Schriftsteller Peter Schneider gehörte einst zu den Wortführern der Berliner Studentenbewegung, 1967 war er an der Vorbereitung des „Springer-Tribunals“ beteiligt. Die Aufarbeitung der Vergangenheit und die Beschäftigung mit Erinnerungen sind auch sein Lebensthema. Peter Schneiders 1973 erschienene autobiografische Erzählung „Lenz“ avancierte einst zum Kultbuch der von der Revolution enttäuschten Linken – „ein Plädoyer gegen die rotlackierte Selbstgerechtigkeit“ nannte es Wolf Biermann damals.
Auch Ulrich Waller hat es, wenn auch etwas später, gelesen. Auch ihm hat „Lenz“ imponiert. Nach den 1940er- und 1950er-Jahren in den ersten beiden Inszenierungen kümmert sich sein „Il Paradiso è sempre altrove“ diesmal um die späten 1970er-Jahre. Wallers Theatertext ist ein fiktiver, aber seine Erzählung orientiert sich an Peter Schneiders Geschichte. „Mich hat der Untergang des linken Projekts interessiert“, erklärt Waller, „und mich beschäftigt, dass so wenig übrig geblieben ist von unserer Vorstellung einer gerechten Welt.“
Seit vielen Jahrzehnten lebt Autor Peter Schneider selbst zeitweise in Italien
Fragen, die auch Peter Schneider noch immer umtreiben, während sich der Autor in Castelnuovo Berardenga zwischen den Schauspielern und Bühnentechnikern seinen Mittagsweißwein genehmigt. Die Probenverpflegung steht hier sogar im Vertrag, sie ist entscheidender als eine Gage, die bei dem freien Projekt der theatralen Toskana-Fraktion ohnehin nicht üppig ausfällt.
Anders als das „Pranzo“: Vitello Tonnato, süße Tomaten mit Olivenöl, dick geschnittene Mozzarella-Scheiben, Reissalat – unter großem Hallo und „Buon Appetito“ werden die Platten und Schüsseln und Karaffen über die langen Tische gereicht. Seit vielen Jahrzehnten lebt Peter Schneider, den der „Spiegel“ einmal „die Inkarnation des jugendlich-studentischen Protests“ nannte, selbst zeitweise in Italien. Sein Haus steht zwischen Neapel und Rom. 83 ist er inzwischen, auch wenn er – „Dolce Vita“ sei Dank? – locker 20 Jahre jünger wirkt.
„Ulrich Waller hat sich von meinem Buch inspirieren lassen, aber die Umstände im Stück sind doch etwas anders als im Buch“, erklärt er nach dem Essen bei einem Cappuccino und einer Zigarette. ,Lenz’ spielt eigentlich im unmittelbaren Anschluss an den Niedergang der 68er-Bewegung, kurz vor dem Beginn der RAF, kurz nach dem Attentat auf Rudi Dutschke. Als ich damals schon dachte: Das ist jetzt ein Ende, wenn es den Rudi Dutschke erwischt. Uli Waller erzählt die Figur etwas später, zu der Zeit des ,Compromesso storico’.“
St. Pauli Theater in der Toskana: Uli Wallers Talent zur Anarchie
Den „Historischen Kompromiss“, als die große kommunistische Partei PCI Mitte der 1970er-Jahre mit der größten konservativen Partei Democrazia Cristiana zusammenarbeiten wollte, hielt nicht nur Peter Schneider für „eine Chance für Europa“, eine Hoffnung auch. Sie hat sich nicht erfüllt: „Seit dem katastrophalen Ende dieses Versuchs, seit dem Mord an dem großartigen Politiker Aldo Moro durch die Roten Brigaden, ist Italien in zwei Teile zerbrochen. Das Land hat sich davon nie mehr erholt.“ Dass der ehemalige Ministerpräsident Berlusconi erst kürzlich ein Staatsbegräbnis im Mailänder Dom bekam, empört Schneider ungemein: „Die ganze Linke hat sich da auch verbeugt, zu meinem Entsetzen!“
Das Italien hingegen, das Peter Schneider liebt und das ihm auch damals auf seiner ersten Exkursion begegnete, erkennt er nun ausgerechnet in der deutsch-italienischen Theater-Kollaboration in der toskanischen Provinz wieder. Im Sommer 1968 war Peter Schneider erstmals nach Italien gereist, wo ihn auch Ulrike Meinhof in Rom besuchte, wo er dann aber lieber nach Trento weiterzog und schnell erneut mittendrin war in der Revolution. „Als eigentlich abtrünniger 68er dachte ich, jetzt ist alles vorbei, jetzt ziehe ich mich erst mal zurück. Und dann gehe ich nach Trento und werde von denen ausgequetscht und lerne in 14 Tagen Italienisch! Das konnte eigentlich alles gar nicht wahr sein. Aber diese Theaterproduktion erinnert mich daran. Diese Energie!“
Schneider über Waller: „Es gibt nichts drum herum außer Olivenbäumen, aber er macht da Theater“
Von Uli Waller und dessen Talent zur Anarchie schwärmt der Schriftsteller, der wegen seines Kontakts zu italienischen Linksradikalen damals zwischenzeitlich aus dem Land ausgewiesen wurde, regelrecht: „Dass einer in dieser wunderschönen, aber absolut abgelegenen Gegend eine Theaterbühne aufbaut und diese Einheimischen-Truppe zur Mitarbeit bewegt, das finde ich sagenhaft. Es gibt nichts drum herum außer Olivenbäumen, aber er macht da Theater, in diesem abseitigen Gemäuer. Das ist bewundernswert!“
In bestimmten Ecken von Italien seien eben „die Träume wichtiger als die Realität“, glaubt Peter Schneider, der die 68-Bewegung und auch seine eigene Position später oft kritisch hinterfragt hat. Das passt zu Ulrich Wallers Vertrauen in die Kraft der Bühne und nicht zuletzt in die Kraft der Gemeinschaft. „Das ist die Fähigkeit, das Leben immer wieder zu Festen zu organisieren“, beschreibt es Schneider. „Und der Sinn für die Schönheit. Das ist für mich vielleicht das Wichtigste gewesen. Dass ich in Italien überall auf diesen Sinn für die Schönheit stieß. Meine Generation ist noch zwischen Trümmern aufgewachsen, da gab es nichts, woran sich das Auge festhalten konnte. Auch die Gesichter der Eltern: verbittert, zerstört. Wenn ich dagegen diese schönen alten Menschen hier in Italien gesehen habe und auch immer noch sehe, in deren Gesichtern sich ein gelungenes Leben abzeichnet und kein verpasstes Leben ... Ich glaube, das werden die Italiener nicht verlieren, da sind sie gegen Berlusconi und Meloni und alles anderen erhaben.“
Gegen das Lampenfieber: „Oh bella, ciao! Bella, ciao! Bella, ciao, ciao, ciao ...“
Auch am Premierenabend in San Gusmè zeigt sich diese Fähigkeit, das Leben zu Festen zu organisieren. An langen Holztafeln essen die Spielerinnen, Statisten und Bühnenarbeiter vor der Vorstellung gemeinsam Schinken und Melone, irgendjemand hat etwas Süßes gebacken, in den Karaffen ist diesmal Rotwein. Das Publikum erklimmt erwartungsvoll die Tribünen auf der Piazza Castelli; hinter den Garderoben, die provisorisch in einer Art Gemeindezentrum der lokalen Kommunisten untergebracht sind, stehen die Schauspieler mit den Bruscellanti zusammen.
Kleine Mädchen und Alte, Frauen und Männer, Profis und Amateure. Gegen das Lampenfieber singen sie das Partisanenlied, das auch im Stück vorkommt und das die Deutschen hier genauso inbrünstig mitschmettern wie ihre italienischen Kollegen: „Oh partigiano, portami via, oh bella, ciao! Bella, ciao! Bella, ciao, ciao, ciao ...“
Das ist keine Utopie, das ist ein echter Moment der Völkerverständigung. Und so unwahrscheinlich es noch am Vortag auf der Probebühne schien, so funkelnd hebt der Abend wenig später vor Publikum ab. Jeder Einsatz funktioniert, jeder Übergang klappt. Fast jedenfalls. „Il Paradiso è sempre altrove“ wird durch den Optimismus der Mitwirkenden getragen. Auf der Bühne und davor.
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In der zweiten Reihe, ganz links natürlich, sitzt der Schriftsteller Peter Schneider. Er habe eigentlich „immer nur Theater“ machen wollen, hatte er noch am Nachmittag irgendwann gestanden. „Ich eigne mich gar nicht für die Einsamkeit des Schreibens. Und ich war immer überzeugt, dass ich der geborene Theaterautor sei. Aber keines meiner Stücke ist aufgeführt worden. Ich habe sehr viele Theaterstücke geschrieben, das ist alles in Papierkörben gelandet, auch im Papierkorb von Uli Waller.“ Vielleicht ist es auch eine späte Genugtuung, dass es sein „Lenz“ – ziemlich genau ein halbes Jahrhundert nach Erscheinen – nun auf eine Theaterbühne geschafft hat. Wenigstens als Idee, als Inspiration.
Es ist schon nach Mitternacht, als Peter Schneider von Ulrich Waller zum Schlussapplaus auf die Bühne von San Gusmè gewinkt wird und ihm jemand das Mikrofon in die Hand drückt. „È un miracolo, es ist ein Wunder!“, sagt er in die toskanische Nacht hinein und schüttelt lächelnd den Kopf. „Das konnte so nur in Italien passieren.“
Die Reise nach Castelnuovo Berardenga wurde unterstützt vom St. Pauli Theater.