Lübeck. Verbotene Liebe trifft Wilden Westen: Auf dem Domhof wird neben einem Skelett Shakespeare gespielt und Erdbeerbowle serviert.
Die Schleife prangt in rund 110 Meter Höhe. Knallrot (und mit Banderole imposante 100 Kilogramm schwer) ziert sie den nördlichen der beiden Domtürme zu Lübeck, die wiederum die Silhouette der Hansestadt prägen. Auch für Auswärtige ist die Sommerbühne des Lübecker Theaters so kaum zu verfehlen: Erstmals spielt das Haus hier Freilichttheater, Schauplatz ist der Domhof, backsteingesäumt und grün bewachsen.
Und spektakulär bewacht: Wer seine Plätze auf der eigenes aufgebauten Zuschauertribüne einnehmen will, muss erst an einem imposanten Knochen-Ungetüm vorbei – Shakespeare teilt sich den Hof mit einem 14 Meter langen Walskelett. Und der Wal, Prunkstück des benachbarten Museums, war zuerst da.
Da liegt es nahe, dass das Theater auch „Moby Dick“ auf den Open-Air-Spielplan setzt. Der ist zwar schon jetzt plakatiert, nimmt seinen Kampf mit Kapitän Ahab allerdings erst im kommenden Sommer auf. In diesem Jahr wird der Riesensäuger ignoriert, vor Melville kommt Shakespeare. Und in der Tragödie um „Romeo und Julia“ fällt dem Skelett höchstens eine symbolische Aufgabe zu: Egal wie mächtig das Tier, egal wie groß die Leidenschaft – am Ende sind sie alle tot.
„Romeo und Julia“ in Lübeck – beim Open-Air-Theater geht’s auch ums Drumherum
Aber erst einmal wird im Domhof aufgeräumt Erdbeerbowle getrunken, vor der mit Giftfläschchen und Pappmasken ausgestatteten Fotowand posieren junge Mädchen für Premieren-Selfies. Es geht hier nicht nur um die Inszenierung selbst, es geht auch um das Erlebnis drum herum, bevor auf der Bühne gestritten und geliebt wird, gefochten und gemordet und leider hin und wieder auch gesungen.
Regisseur David Ortmann hat Shakespeares Tragödie auf bekömmliche anderthalb Stunden gestrafft. Rosalinde, Romeos erster Schwarm, ist wie sein Cousin Benvolio gleich ganz gestrichen, hier geht es direkt auf den Maskenball der Capulets, wo Romeo seine Julia nicht nur erstmals trifft, sondern auch umstandslos knutscht.
„Romeo und Julia“ in Lübeck: Verbotene Liebe trifft auf Wilden Westen im Domhof
Der Ball selbst präsentiert sich dabei eher als Art Bad-Taste-Party. Kostümbildnerin Ursula Bergmann gibt dem Affen Zucker: Die Amme (patent: Rachel Behringer) kommt als Kaktus, Mercutio (impulsiv: Johannes Merz) als Vokuhila-Schnurrbart-Hipster, dessen ästhetisch herausfordernder Aufzug weniger kostüm- als typbedingt zu sein scheint. Das gilt auch für die Liveband, die konsequent sonnenbebrillt als schrullig-coole Cowboy-Combo auftritt.
Verbotene Liebe trifft auf Wilden Westen im Lübecker Domhof. Warum? Egal, wenn doch der schräge Witz auch ohne Hintersinn ganz unbekümmert verfängt.
Und die Leidenschaft ist eh groß, die Energie des Ensembles mitreißend, die Abenddämmerung lauschig. Heiner Kock als dynamischer Romeo und Marlene Goksch als zarte und doch ungestüme Julia sind ein unbedingt entzückendes Paar. Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so: Familienfehde und Rollenverständnis erlauben kein Happy End. Zu den eindrücklichsten Szenen gehört die Wutrede von Michael Fuchs als unbeherrschtem Papa Capulet, der seine Tochter, das „verstockte“ und „querköpfige Blag“, wahrlich nicht schont. Wohin das pädagogisch führt, ist allgemein bekannt.
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Ein bisschen irritiert es vielleicht, wenn in den Szenen größter Verzweiflung plötzlich nicht nur Vogelgezwitscher zu hören ist, sondern auch Gitarrensoli, Jubel und Applaus von der anderen Domseite herüberwehen. Dort nämlich ist Festwoche, dort hat gewissermaßen die Konkurrenz ihre Zelte aufgeschlagen. Die enorme rote Schleife um die nördliche Domturmspitze ist kein Shakespeare-Wegweiser, sondern ein Geschenk zum 850. Geburtstag der berühmten Backsteinkirche.
Aber vielleicht ist es am Ende gerade das, was den Reiz dieses Abends ausmacht: Romeo und Julia, Liebe und Tod, Backsteinlübeck und Cowboykapelle, Erdbeerbowle und Domparty. Und der Pottwal, natürlich, der das verrückte Spektakel ganz ungerührt von der Seitenlinie betrachtet.
„Romeo und Julia“, Open-Air-Theater in Lübeck, Domhof, bis zum 13. Juli, jew. 20 Uhr. Restkarten unter T. 0451 399 600 oder www.theaterluebeck.de