„Music“ von Angela Schanelec erzählt die Ödipus-Geschichte im Hier und Jetzt. Geredet wird wenig. Nicht immer leicht auszuhalten.

Angela Schanelec spaltet das Publikum. Mit einer betont eigenen, betont anderen Filmästhetik gibt es nur die, die sie bewundern, und die, die sie meiden. Das wird gleich in der ersten Einstellung ihres neuen Films „Music“ deutlich, der am Donnerstag in die Kinos kommt und in Hamburg zunächst nur im Metropolis anläuft.

„Music“: Dieser Film wird das Kinopublikum auch in Hamburg spalten

In einer Panoramaeinstellung sieht man eine griechische, nebelverhangene Landschaft, in der ein Auto in Echtzeit von ganz oben langsam die Serpentinen nach ganz unten fährt. Gefühlte Ewigkeiten. Dabei fällt kein einziges Wort. Und es gibt auch keine Musik. Nur diese eine starre, ewige Einstellung.

Eigentlich müsste man ja einen Test machen: ob die geneigte Zuschauerin und der geneigte Zuschauer auch wirklich verstehen, um welche Geschichte es hier geht. Ob sie von alleine auf die Vorlage kommen. Aber das ist kaum möglich. Denn der Film lief ja schon auf der Berlinale und wurde dort rege diskutiert. Weil er die alte Geschichte von Ödipus erzählt. Aber ganz anders, vielfach verfremdet. Und nicht in einer stilisierten Antike wie einst bei Pasolini („Edipo Re“), sondern im Hier und Jetzt verortet.

Der Vater will ihn küssen, die Mutter verliebt sich in ihn

Anfangs wird ein Baby, das Wunden an den Knöcheln hat, ausgesetzt und von anderen Menschen gefunden. Danach fährt ein zweites Auto, diesmal eher in der Horizontalen. Ein Ausflug junger Menschen, der wegen einer Autopanne zum Stillstand kommt. Aber statt das Auto zu reparieren, baden einige von ihnen. Und ein Mann versucht einen anderen zu küssen. Doch der stößt ihn weg. Und der Abgewiesene schlägt mit dem Kopf auf einen Stein.

Der junge Mann ist Jon (Aliocha Schneider). Nur an seinen wunden Füßen erkennt man, dass er ebenjener ist, der einst als Baby ausgesetzt wurde – „Ödipus“ heißt im griechischen „Schwellfuß“. Der ihn küssen wollte, war sein Vater. Aber das konnten beide nicht ahnen. Obwohl es eher ein Unfall war, kommt Jon ins Gefängnis. Und trifft dort auf die Aufseherin Iro (Agathe Bonitzer). Die – man ahnt es, aber nur, wenn man schon auf die Ödipus-Fährte angesetzt wurde – seine Mutter ist. Und die natürlich auch nicht ahnt, dass es ihr Sohn ist, dem sie da die Füße badet. Und in den sie sich verliebt.

Hier fällt lange kein einziges Wort, wird fast gar nicht gesprochen

Wie viel Ödipus muss man erzählen, um von Ödipus zu erzählen? Das ist die eigentliche Frage in diesem Film, der ein typisches Schanelec-Werk ist, in seiner totalen Reduktion. Aber auch wieder ein totales Gegenstück zu ihrem letzten Film „Ich war zuhause, aber ...“, der 2019 auch auf der Berlinale lief und in dem geredet und geredet wurde. Hier fällt lange kein einziges Wort, wird fast gar nicht gesprochen. Und wenn, dann eher Banalitäten, etwa über ein Kreuzworträtsel. „Anderes Wort für ,Spiegel‘, sechs Buchstaben“ – die poetische Antwort: „Traum.“ Viel wichtiger ist, was sich die Menschen nicht erzählen, viel wichtiger sind ihre Blicke und Berührungen.

Und dann ist da noch die Musik. Die steht ja schon im Titel des Films, ist aber lange eine Behauptung, die nicht eingelöst wird. Bis dann nach einer Dreiviertelstunde Barockmusik erklingt. Im Gefängnis. Aus einem alten Kassettenrekorder. Und dann singt Jon, mit einer überraschend klaren, schönen Stimme. Und verzaubert damit die Wärterin, die seine Mutter ist und bei der auch innerlich etwas zum Klingen gebracht wird.

Schanelec bringt absichtlich Dinge durcheinander, führt auf falsche Fährten

Ein Mann mit schöner Stimme, der das Schicksal herausfordert, aber doch nicht ändern kann – das ist ja eigentlich eine andere griechische Sage, die von Orpheus. Schanelec bringt hier absichtlich Dinge durcheinander, führt auf falsche Fährten. Die Musik steht hier für Reinheit, Erkenntnis und Buße zugleich. Im letzten Drittel wird Jon ein gefeierter Sänger sein – in der pulsierenden, rauen Mitte Berlins, was einen harten Bruch zu den entrückten, sonnendurchfluteten Bildern der griechischen Provinz darstellt.

Hier wird Jon, ein Flüchtender vor sich selbst, vor großem Publikum auftreten. Aber der Preis dafür ist ein schwerer Verlust. Und die schwindende Sehkraft. Er erblindet nicht gleich wie Ödipus in der Sage. Aber er trägt bald genauso eine Brille wie der Mann, der durch ihn zu Tode kam. Und die Gläser werden immer stärker.

„Music“ ist ein spartanisches und gerade darin radikales Kino

„Music“ ist ein Drama über Verlust, das Ausgeliefertsein ans Schicksal und den Schmerz darüber. Schanelec hat selbst einen schweren Verlust erlitten, den Tod ihres Ehemanns, des Theaterregisseurs Jürgen Gosch. Auf der Berlinale erzählte sie, wie sehr sie dessen Inszenierung von Sophokles’ „Ödipus“ fasziniert habe. Und seine Art, dies mit Körperlichkeit darzustellen. Spiel mir das Lied vom Ödipus: Sie erzählt den Stoff nun mit kleinen Berührungen. Und Andeutungen.

Dabei steckt Schanelec auch den Zuschauer mit in einen Wagen und lässt ihn durch eine verfremdete Sagenwelt rumpeln, irren und feststecken. Man erkennt die Anspielungen oder erkennt sie nicht. Bei den elliptischen Auslassungen sieht man nur Ausschnitte und muss sich den Rest selbst erschließen oder zusammenreimen. Ein spartanisches und gerade darin radikales Kino, in dem vielleicht jeder einen ganz anderen Film sieht.

Mit diesem strengen und zugleich experimentellen Formalismus, mit dem sie das klassische Erzählkino aus den Angeln hebt, spaltet Angela Schanelec. Man kann davon elektrisiert oder maximal gelangweilt sein. Auf der Berlinale, wo sie 2019 bereits einen Regie-Preis erhielt, bekam sie in diesem Jahr den Bären für das beste Drehbuch. Beim Deutschen Filmpreis dagegen kam ihr Film nicht mal in die Vorauswahl. Und vom BKM, das laut Statuten den „kulturellen Film“ fördert, gibt es keine Verleihförderung. Sodass diese „Music“ nun nur unter erschwerten Umständen ins Kino gelangt.

„Music“ 109 Minuten, ab 12 Jahren, läuft im Metropolis