Hamburg. Starke Unterhaltungstragödie: „Tatort“-Ermittler Wolfram Koch wird in „König Lear“ am Thalia Theater zu King Lächerlich.
Das ist doch mal eine amtliche Discokugel! Die ganze Welt eine einzige Party, daran lässt Stéphane Laimés Bühnenbild zunächst gar keinen Zweifel. Vor dem glänzenden, verschwenderisch gerafften Silbervorhang spielt die Band, die enorme Discokugel ragt über sie hinaus, über die Bühne in Richtung Parkett. Wie ein paillettenbesetzter Globus, die schillernde Sonne der Macht oder, da man genau genommen nur eine Hälfe zu sehen bekommt, vielleicht auch eine beachtliche Glitzer-Brust.
Die Thronfolge ist schließlich weiblich, das Erbe des abdankenden König Lears, all das herrliche Bling-Bling, soll an drei junge Frauen gehen, Lears Töchter, die ihrerseits ordentlich funkeln, prunkvoll bis in die ausgefahrenen Krallen. Vorhangstoff war augenscheinlich noch übrig, weshalb die Kulisse gewissermaßen nahtlos in die Titelfigur übergeht. Wolfram Koch glamourt als Lear im ausladenden Ballkleid mit üppigem Silberumhang (Kostüme: Kathrin Plath), aufgekratzt verteilt er seinen Nachlass.
Thalia Theater: Leider ist King Charles schon vor der Shakespeare-Premiere abgereist
Aber so eine Machtübergabe kann eine knifflige Angelegenheit sein. Zu schade, dass King Charles bereits aus Hamburg abgereist ist, bevor er Jan Bosses Shakespeare-Premiere „König Lear“ am Thalia Theater hätte mitverfolgen können. Das wissende Aufseufzen an dieser oder jener Stelle hätte man (auch wenn bei den Windsors praktisches Loden dem ganzen Glitzerzeugs vermutlich vorgezogen wird) doch gern beobachtet. Dabei ist der alte weiße Mann (also: Lear, nicht Charles) hier vermeintlich sogar souveräner als es Queen Elizabeth war, jedenfalls was die Abgabe der aktiven Regentschaft angeht.
Bis zu dem Moment, als des Königs Lieblingstochter Cordelia die eingeforderte Liebesbekundung nicht so heuchlerisch wie die älteren Schwestern abzuliefern bereit ist. Und die ganze joviale Party nach nicht einmal zehn Minuten ein recht abruptes Ende findet.
Cordelia, die Pauline Rénevier mit wohltuender Aufrichtigkeit inmitten der sonst herrschenden Scheinheiligkeit, Feigheit und Hinterfotzigkeit gibt, wird für ihre Ehrlichkeit vom Hof gejagt. Die älteren Schwestern verweigern dem König („nutzloser alter Mann“) eine Luxusrente in Würde. Und auch Johannes Hegemann als Glosters unehelicher Sohn Edmund, ein Ausbund an giftiger Gekränktheit, Sadismus und Empathiefreiheit, schickt sich zum symbolischen Vatermord an. „Stand up for the bastards!“ Diesem Satansbraten schaut man wirklich ausgesprochen fasziniert zu.
Wenn Familie und Karriereanspruch nicht voneinander zu trennen sind, macht das die Gemengelage kompliziert
Ja, Machtstreben, Loyalität und Kompetenz gehen leider nicht zwangsläufig Hand in Hand. Und wenn – wie es halt so ist in handelsüblichen Diktaturen und Monarchien – Familie, Führungsposition und Karriereanspruch nicht voneinander zu trennen sind, macht das die Gemengelage zusätzlich kompliziert. Die Folge: Denkmalstürze in Serie, die Discokugel-Gang zerlegt sich selbst.
„Ist das noch Lear?“ fragt der König entgeistert, den sein Narr (Christiane von Poelnitz) als „enterbste Erbsenschote“ entlarvt. Regisseur Jan Bosse zeigt den düsteren Shakespeare-Stoff in einer Neuübersetzung von Miru Miroslava Svolikova über eine lange Strecke als knallige Unterhaltungstragödie – und treibt dem Shakespeare schließlich doch den Glitzer aus.
Ist das noch Lear? Immer eine gute Frage, wenn man auf diesen Stoff blickt. Zuletzt hatte sich in Hamburg Karin Beier am Deutschen Schauspielhaus damit beschäftigt, auch sie engagierte mit Edgar Selge einen Gaststar für die Titelpartie. Am Thalia Theater ist es nun Wolfram Koch, „Tatort“-Kommissar aus Frankfurt und Bosses Leib- und Magen-Hauptdarsteller, der mit ihm in Hamburg zuletzt die Mediensatire „Network“ gemacht hat. Und man kann da durchaus Parallelen finden zwischen diesen beiden Figuren: Wolfram Koch als King Lächerlich – ein Showmaster, der das Rampenlicht einerseits mit Pomp und andererseits nur halbherzig verlässt. Und dessen Niedergang dabei umso greller ausgeleuchtet wird.
Dem geblendeten Gloster wird ein Augapfel-Hagelschauer spendiert
Nun ist der Lear bei Wolfram Koch wahrlich kein Greis, und die Spielwut gerade dieses Schauspielers ohnehin bemerkenswert. Ein furioser Silversurfer, wie Marketingmenschen diese Zielgruppe gern nennen, und das ist Wolfram Koch auf der Thalia-Bühne sogar im wörtlichen Sinne: Seinen größten Monolog hält er mit Wucht auf der zu diesem Zeitpunkt längst gekippten Discokugel. Das an dem muskulösen Männerkörper eben noch mondäne Outfit verzerrt sich zum kläglichen Restfunkeln.
„Diese kalte Nacht wird uns alle zu Narren machen“, erkennt der Narr; und das hohle Halbrund wird zum Iglu in der emotionalen Eiswüste. Der ganze Glanz ist da längst futsch, der Vorhang mit viel Pathos gefallen. Was bleibt, ist die tiefe Schwärze der Bühne, fast empfindet man all die nackten Glühbirnen noch als zu heimelig. Die lässige Band (Jonas Landerschier, Leo Schmidthals, Tilo Werner) begleitet das Geschehen wie eine Filmmusik, bisweilen wäre an dieser Stelle etwas weniger doch etwas mehr gewesen. Nicht jede Szene verträgt oder braucht solch manipulative Verstärkung, das Tönen geht mitunter auf Kosten der Wahrhaftigkeit.
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Umso dankbarer schaut man auf das wirklich hervorragende Ensemble. Neben Koch sind das Christiane von Poelnitz als osterkükengelb zerrupfter, melancholisch-poetischer Narr, Falk Rockstroh als grausam geblendeter Gloster (dem sogar ein veritabler Augapfel-Hagelschauer spendiert wird), Tilo Werner als loyaler Kent. Pauline Rénevier transportiert sowohl als geradlige Cordelia als auch als ausgebooteter Gloster-Sohn Edward eine große Klarheit, eine spielerische Transparenz, die in keinem Moment mit Harmlosigkeit zu verwechseln ist, während auch Anna Blomeier und Toini Ruhnke als toxisches Schwesternpärchen längst nicht nur (aber eben auch!) optisch glänzen.
Am Ende, nach zweieinhalb Stunden ohne Pause, sind alle tot (auch wenn Cordelia noch einmal aufsteht). Partystimmung aber herrscht trotz untergegangener Discokugel. Anschließend nämlich: viel Applaus, einhelliger Jubel.
„König Lear“, Thalia Theater (Alstertor), wieder am 4. und 5. April, jew. 19 Uhr; 15.4., 14 Uhr; 23.4., 19 Uhr. Karten unter T. 328 14-444