Hamburg. Derzeit spielt er Shakespeare am Schauspielhaus. Im Interview spricht der Ausnahmedarsteller über das Altern und nie gespielte Rollen.

Der Satz seines Schwiegervaters gefällt ihm. Man muss ihn zweimal lesen, aber er passt zum Thema Alter: „Wahrscheinlich lebt man gar nicht, sondern wartet darauf, dass man bald leben werde; nachher, wenn alles vorbei ist, möchte man erfahren, wer man, solange man gewartet hat, gewesen ist.“ Edgar Selge sitzt unter einem Gemälde, vor dem sich auch schon Martin Walser im Hamburger Literaturhotel Wedina hat fotografieren lassen, und lächelt.

Walsers Satz hängt daneben, ausgedruckt an der Hotelwand. Der Schriftsteller ist der Vater von Selges Ehefrau, Selge selbst ist derzeit König Lear im Schauspielhaus. Die Premiere ist nun ein paar Tage her, das Thema Alter beschäftigt den Schauspieler nach wie vor. Ein Gespräch über den Spaß an der Rücksichtslosigkeit, verpasste Rollen und die gar nicht selbstverständliche Qualität des Zuschauens.

Shakespeares „König Lear“ stellt man sich als Rolle vor, die jeder Schauspieler spielen möchte, wenn er ein gewisses Alter erreicht hat. Ist das so?

Edgar Selge: Ich peile keine Rollen an. Das habe ich mir früh abgewöhnt, weil ich die Rollen, die ich immer spielen wollte, sowieso nie gekriegt hab.

Nicht? Welche waren das denn?

Selge: Hamlet, Romeo, Tasso, der Prinz von Homburg … Hab ich alles nie gespielt. Hätte ich gern! Als jugendlich­schmerzvoll-romantischen Helden hat man mich bloß nie genommen. Irgendwann wurde ich dann neugieriger darauf, was andere mit mir stattdessen anstellen wollten. Da erfährt man mehr über sich.

Als Karin Beier Ihnen den König Lear vorschlug …

Selge: ... habe ich sofort Ja gesagt. Auch weil es eine Altersrolle ist. Der Lear ist ja kein sympathischer Mensch. Aber der Zustand unserer Welt hat mit dem Zustand, den Shakespeare hier zeigt, viel zu tun.

Der Lear ist kein sympathischer Mensch, sagen Sie. Mögen Sie ihn?

Selge: Der ist ein furchtbarer Mensch. Ein richtig furchtbarer Mensch. Ich mag ihn, ja.

Was mögen Sie an ihm?

Selge: Seine Einsamkeit, seine Affekte. Sein Liebesbedürfnis. Und ich begreife, dass jemand, der seine eigenen Fehler und die Welt um ihn herum nicht mehr versteht, sich in den Wahnsinn flüchtet. Ich liebe ihn auch für sein Schuldbewusstsein in der vorletzten Szene. Und noch mehr liebe ich ihn für die Aussichtslosigkeit seiner Verzweiflung am Ende. Damit zeigt er etwas, das möglicherweise auf jeden von uns irgendwann zukommt – womit wir uns aber nicht gern konfrontieren.

Sie sind ein sehr agiler Lear. Man fragt sich: Warum dankt der eigentlich ab? Der kann doch noch!

Selge: Ich glaube, es ist politisches Kalkül. Ein Misstrauen der kommenden Generation gegenüber. Ich, Edgar Selge, bin ja auch ein agiler Mensch – und ich habe trotzdem große Schwierigkeiten, die Symbole der kommenden Generation zu verstehen. Ich glaube, indem der Lear seine Macht freiwillig abgibt, versucht er zu verhindern, dass sie ihm genommen wird. Im Grunde ist es wie bei allen Politikern, zuletzt war das bei Frau Merkel oder Herrn Seehofer gut zu beobachten: Jeder Mensch möchte seinen Abgang selbst bestimmen. Und macht dabei Fehler.

Diese Inszenierung erzählt viel: politisches Chaos, Alter, Geschlechterkampf, sich verändernde Elternschaft. Gibt es einen Erzählstrang, der Ihnen der wichtigste ist?

Selge: Die öffentliche Demontage eines Menschen. Ich kann das körperlich fühlen. Erst demontiert König Lear sich selbst, dann wird er von seiner Umwelt demontiert. Bis nichts mehr übrig ist. Dass das ein unangenehmer Vorgang ist, übrigens auch für die Zuschauer, ist mir bewusst.

Denkt man in der Arbeit an so einem Stoff automatisch über das eigene Abdanken nach?

Selge: (Sehr lange Pause.) Ja. Ich mache mir ­Gedanken über das Alter, über ­Schwäche. Aber auch über Mut zum Anarchismus! Diese Rolle macht mir Lust auf einen rücksichtsloseren Umgang mit mir selbst. Ich will mir nichts mehr vormachen.

Ist das womöglich das große Privileg des Älterwerdens? Mehr Ehrlichkeit?

Selge: „Ehrlichkeit“, das klingt so edel. „Ra­dikale Offenheit“ – das gefällt mir ­besser.

Werden Sie gern älter?

Selge: Ich hab doch keine Wahl! Ich nehme das Leben so an, wie es kommt. Aber Sie haben schon recht: Jedes Jahr, das ich noch arbeiten kann, genieße ich. Das kann ich heute besser als früher. Ich merke natürlich, dass ich mir die Kräfte einteilen muss.

Ist Spielen, also auch Schau-Spielen, ein Dem-Alter-Trotzen?

Selge: Spielen passt zum Alter wie zur Kindheit. Die beiden haben viel miteinander zu tun.

„Der Applaus schützt mich und erlöst etwas in mir“, haben Sie mir nach „Unterwerfung“ gesagt. Wie ist es mit dem Gegenteil? Nach der „Lear“-Premiere gab es – nicht für die Schauspieler, aber für die Regie – auch einige Buhs. Wie sehr nimmt man das auf der Bühne wahr?

Selge: Man kriegt es schon mit. Ich glaube, das Stück ist sehr viel düsterer, als es das Premierenpublikum erwartet hat. Shakespeare erzählt hier kompromisslos und brutal. Dem stellt sich Karin Beiers Inszenierung auch ästhetisch radikal. Der Abend verlangt auch dem Zuschauer etwas ab. Die Zustimmung bei allen Vorstellungen danach war begeistert und eindeutig.

Ein Kritiker vermutete als Ursache für die Buhs, dass es ein „Weltstadt-Publikum nicht ertragen kann, wenn Menschen nackt sind, wenn sie leiden“. Ist Nacktheit auf der Bühne tatsächlich immer noch ein so großes Thema?

Selge: Für mich überhaupt nicht, war es nie. (lächelt) Der Körper ist mein Kostüm, ob er nun nackt ist oder angezogen. Als sich in der Premiere die Figur des Edgar, gespielt von Jan-Peter Kampwirth, in seiner Verzweiflung auszog, sagte eine Frau im Rang laut: „Das musste ja kommen.“ So ein Satz irritiert einen Moment lang. Er stellt eine Banalität und im Grunde auch eine Verachtung gegenüber der Theaterarbeit in den Raum, die man erst mal wieder wegspielen muss.

„Das Theater ist ein Menschenexperimentierhaus“, haben Sie mal gesagt …

Selge: Alle menschlichen Abgründe werden am Theater erforscht. Das kriegt man nicht umsonst, dafür muss man sich hingeben. Das erfordert sehr viel Vertrauen unter denen, die das miteinander versuchen.

Was macht Karin Beier, zu der Sie dies Vertrauen haben, als Regisseurin aus?

Selge: Ihre größte Qualität ist, dass sie gerne zuschaut und genau beschreibt, was sie gesehen hat.

So einfach?

Selge: Das ist nicht einfach. Das ist eine pragmatische, vor allem eine menschliche Fähigkeit. Ich kenne nicht viele, die das so können wie sie. Karin Beier ist außerdem sehr gut vorbereitet. Natürlich entwickelt sie ein Konzept, aber sie ist keine Theoretikerin, sondern eine Praktikerin. Die Proben sind inspirierend, und man fühlt sich frei, vieles auszuprobieren. Die Arbeit mit Karin Beier war schon in „Unterwerfung“ eine außergewöhnlich schöne Arbeitserfahrung.

In „Unterwerfung“ stehen Sie stundenlang allein auf der Bühne, hier scheinen Sie das Ensemblespiel richtig zu genießen. Sind Monologe im Grunde schrecklich?

Selge: Ich würde das nicht gegeneinander aufrechnen. Klar ist es eigentlich schöner, im Ensemble zu spielen, vor allem mit so tollen Kollegen! – aber ich habe halt eine Affinität zu Monologen, zum Spielen ohne „vierte Wand“, unmittelbar mit dem Publikum. (lächelt) Ich hole da vielleicht etwas nach.

Womit wir wieder bei den nie gespielten Rollen wären! Mal ehrlich: Haben Sie den berühmten Hamlet-Monolog denn trotzdem mal gelernt? Auch wenn Sie ihn nie ­gespielt haben?

Selge: Ja, das habe ich. Ich habe ihn sogar ­Peter Zadek einmal vorgespielt. Anfang der 70er-Jahre irgendwann.

Und was hat er gesagt?

Selge: Er hat gesagt: „Ist noch ein bisschen Schauspielschule.“

Autsch.

Selge: Ja! (lacht) Leider hat er sicher recht gehabt! Das war dann ein Satz, der mich eher gepuscht hat.