Hamburg. Alexander Klessinger zeigt im Thalia in der Gaußstraße seine Dramatisierung von Ágota Kristófs Roman. Die Theaterkritik.

Ein Gitterboden, bedeckt mit schwarzer Folie. Nebel wabert, drei junge Menschen liegen in Unterwäsche aneinander gekuschelt, wie schlafende Tiere. Der Einstieg zeigt einen kurzen Moment der Intimität, vielleicht den einzigen in Alexander Klessingers Inszenierung von Ágota Kristófs Roman „Das große Heft“ in der Garage vom Thalia in der Gaußstraße.

Es herrscht Krieg. Ein Zwillingspaar wird aus der umkämpften Stadt aufs Land zur Großmutter verschickt, in eine gefühlskalte Umgebung, nur auszuhalten, indem man selbst jegliche Gefühlsregung in sich abtöten.

Thalia Gaußstraße: „Das große Heft“ – mit Mitteln der Romandramatisierung

Und diese Verhärtung dokumentieren die Kinder, indem sie ihre Erfahrungen in streng formalisierten Aufsätzen festhalten, im „großen Heft“ – die Grundlage des 1986 erschienenen Romans. Erschreckend sind schon die drastischen Schilderungen von Gewalt, Missbrauch und Ausbeutung, viel erschreckender aber ist, wie die Kinder sich nach und nach immer unempfindlicher machen, wie sie Strategien entwickeln, mit dem Grauen umzugehen.

In der Gaußstraße wird das mit den gut erprobten Mitteln der Romandramatisierung erzählt: Enrique Fiß, Antonia Jungwirth und Luis Pintsch sprechen direkt ins Publikum und schaffen so eine Unmittelbarkeit, die zwar wenig szenischen Mehrwert erzeugt, den Zuschauer aber direkt angeht.

"Das große Heft" hätte gut ins reguläre Thalia-Repertoire gepasst

Dass es im Roman um zwei Kinder geht, während hier ein Trio agiert – egal. Auch bei Kristóf sind die Zwillinge keine individuellen Charaktere, sondern zu einer Figur verschmolzen, entsprechend entspricht Klessingers Entscheidung durchaus der Vorlage. Dazu sorgen kluger Licht- und Ausstattungseinsatz (Bühne: Christopher Dippert) sowie Live-Musik (Alexander Schweiß) dafür, dass das Gezeigte über den gesprochenen Text weit hinausgeht.

Dass das Figurentableau gegen Ende erweitert wird, dass ein 22-köpfiger Chor die Bühne betritt und die Handlung in den Hintergrund schiebt, ist eine Reminiszenz an eine berühmte „Das große Heft“-Dramatisierung: 2018 richtete Überwältigungs-Regisseur Ulrich Rasche den Roman fürs Staatsschauspiel Dresden ein und wurde mit dieser Inszenierung zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Wobei Klessinger ansonsten wenig mit Überwälltigung arbeitet, sondern mit sensibler Einfühlung in einen Stoff.

„Das große Heft“ ist die Abschlussarbeit des Regisseurs an der Theaterakademie Hamburg, in der Gaußstraße war sie gerade mal in drei (schnell ausverkauften) Aufführungen zu sehen. Was ein wenig schade ist: Mit ihrer Konzentration auf den Text, ihrem kreativen Umgang mit der Konvention und nicht zuletzt mit ihrem ästhetischen Anspruch hätte die Arbeit auch gut ins reguläre Thalia-Repertoire gepasst.