Hamburg. Petra Wüllenwebers Stück zeigt kaum bekannte Facetten der Geschwister Scholl – und wie wichtig Widerstand ist.

Es gibt Jahrestage, von denen wünschte man sich, sie wären nie eingetreten. In diesem Februar ist das nicht nur der 24.2. mit dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine. Am 22. Februar jährte sich zum 80. Mal der Tag der Hinrichtung von Sophie und Hans Scholl sowie von Christoph Probst, den drei bekanntesten Mitgliedern der Weißen Rose.

In Gedenken an die Widerstandsgruppe haben die Hamburger Kammerspiele Petra Wüllenwebers Stück „Die Weiße Rose“ auf den Spielplan genommen; es hatte Anfang 2018 in Wien seine Uraufführung erlebt – aus Anlass des 75. Jahrestages des Todes der Geschwister Scholl. Und die beiden Charaktere, insbesondere die jüngere Schwester, stehen auch im Mittelpunkt der hanseatischen Inszenierung Sewan Latchinians.

Hamburger Kammerspiele: „Die Weiße Rose“ ist immer noch aktuell

Der künstlerische Leiter der Kammerspiele, laut Selbstverständnis ein „Theater der Menschlichkeit“, erzählt mit Dramaturgin Anja Del Caro über zweieinhalb Stunden eine vielschichtige, die wahre Lebensgeschichte der Geschwister Scholl. Sie wird dem Anspruch des Hauses zu weiten Teilten gerecht. Wie von der Autorin Wüllenweber vorgegeben, verweben die Theaterverantwortlichen mit dem sechsköpfigen Ensemble unterschiedliche Handlungsstränge in schnell wechselnden Abfolgen, Zeitsprüngen und Rückblenden aus dem Leben der Geschwister Scholl. Die Erstellung der insgesamt sechs verschiedenen Flugblätter im Zeitraum vom Sommer 1942 bis Februar 1943 ist nur ein Teil der Erzählung, die die Protagonisten hier in teils direkt ans Publikum gewandten Worten vorantreiben.

Mit der Inhaftierung in der Zelle fängt es an. Die Spanne auf der von Ausstatterin Ricarda Lutz über zwei Ebenen gestalteten Bühne reicht dann bis zur eindringlichen Schlussszene mit dem Schauprozess unterm Hakenkreuz vor dem Volksgerichtshof und dessen Präsidenten Freisler. Vor dem äußern sich Probst und Hans Scholl letztmals, Sophie aber schweigt. Ihr wortloser Abgang ist eine der stärksten und eindringlichsten Szenen von Hauptdarstellerin Marie Schulte-Werning.

Ihr gelingt es, teils unbekannte Seiten der Sophie Scholl aufzuzeigen und deren Wandlung von einer jahrelang glühenden Anhängerin der Hitler-Jugend zur Widerstandskämpferin. Zwischen stiller Ohnmacht und rebellischem Wachrütteln gerät das Denken bei ihr zum inneren Dialog, verbunden mit der Frage nach dem Sinn des Lebens. Überaus glaubhaft spielt Schulte-Werning diese Art Reifeprozess.

Dass die spätere Flugblatt-Verfasserin Sophie als Backfisch eine leidenschaftliche Aktzeichnerin und Pfeifenraucherin war und über viele Jahre mit dem älteren Wehrmachtsoffizier Fritz Hartnagel (Ingo Meß) liiert, zugleich auch eine gleichaltrige Freundin begehrte, dürfte vielen neu sein. Spätestens als sie aus Briefen Hartnagels aus dem grausamen „Russlandfeldzug“ von Hitlers Wehrmacht zitiert und der Name der ukrainischen Städte Mariupol und Charkiw fällt, ist der Gegenwartsbezug dieser Geschichte für alle im Saal hör- und spürbar.

Gründer der Widerstandsgruppe
Gründer der Widerstandsgruppe "Weiße Rose" an der Münchner Universität: Hans und Sophie Scholl. © dpa

Theater Hamburg: „Die Weiße Rose“ zeigt kaum bekannte Facetten der Geschwister Scholl

Lennart Hillmann gewinnt in seiner Rolle als Hans Scholl bei seiner persönlichen Kammerspiele-Premiere im Laufe des Abends ebenfalls mehr und mehr an Statur. Hans’ homosexuelle Beziehung mit dem Weiße-Rose-Mitglied Schmorell spielt hier eine Nebenrolle; dem Medizinstudenten mit der poetischen Ader sind vielmehr die Augen geöffnet, nachdem er an die Ostfront abkommandiert worden ist. Der Wunsch nach „Freiheit“ von ihm selbst an eine Wand gemalt, ist das, was zählt, aber in der NS-Diktatur ein tödliches Risiko.

Auch für Scholls Mitstreiter, den jungen Familienvater Christoph Probst. Riccardo Ferreira spielt ihn im bayerischem Dialekt fast ein bisschen zu komisch, wenn auch mit Empathie, zeigt in seiner Erstrolle als Gestapo-Kommissar Robert Mohr beim Einzelverhör der Scholls umso mehr Stringenz. Gut gelingen die Mehrfachrollen Julia Berchtold als Sophies Freundin Susanne und als Gefängniswärterin sowie Alexander Klages als Uni-Hausmeister und als einfühlsam bis verzweifelter Vater Robert Scholl – der liberale Politiker sollte seine beiden hingerrichten Kinder und die NS-Diktatur überleben.

Und ja, die aus Michael Verhoevens Film bekannte Szene mit den von oben herabregnenden Flugblättern an der Ludwig-Maximilians-Unversität haben die Hamburger Theatermacher auch für die Bühne adaptiert. Gleich zu Beginn und nicht ganz so ausschweifend wie in Verhoevens Werk, das vor vier Jahrzehnten mit dem Deutschen Filmpreis ausgezeichnet wurde (mit dem „Filmband in Silber“ und „Filmband in Gold“ für Hauptdarstellerin Lena Stolze), nachdem „Die Weiße Rose“ im Jahr zuvor der erfolgreichste deutsche Kinofilm gewesen war.

Dieses Stück ist eine eindringliche Mahnung, Widerstand zu leisten

Solch einen großen Erfolg auf der Bühne, auf regionaler Ebene, zu wiederholen ist 40 respektive 80 Jahre später schwer bis unmöglich – obwohl er den Kammerspielen zu gönnen wäre. Dieses Stück ist eine eindringliche Mahnung, Widerstand zu leisten, bevor es zu spät ist. Peggy Parnass (95), frühere Schauspielerin und legendäre Publizistin, fand die Inszenierung „großartig“. „Ich bin beeindruckt, aber gleichermaßen entsetzt“, sagte sie nach der Premiere. Ihre Eltern waren im Vernichtungslager Treblinka von den Nationalsozialisten ermordet worden, 1939 kam Parnass mit ihrem kleinen Bruder in einem Kindertransport nach Stockholm.

Übrigens: 2023 steht noch ein 25. „Jubiläum“ an. 1998 wurden in der bundesdeutschen Strafrechtspflege aufgrund des Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile die Urteile des Volksgerichtshofes annulliert. Erst dann.

„Die Weiße Rose“ wieder Do 2.3., 19.30, bis 6.4., Kammerspiele, Hartungstraße 9-11, Karten zu 21,- bis 48,-: T. 040/413 34 40; www.hamburger-kammerspiele.de