Hamburg. Ein herausfordernder Debattiermarathon und ein Ensemble zum Niederknien: Jette Steckel verdichtet Camus’ „Die Besessenen“.
Gott ist tot, da fangen die Probleme eigentlich schon an. Kein Grund, nicht trotzdem eine anständige Messe zu feiern wie es Jette Steckel nun in ihrer Inszenierung von Albert Camus’ „Die Besessenen“ in den heiligen Hallen des Thalia Theaters tut. Eine Messe der Verzweiflung, mit allem Pipapo, sogar Orgelspiel, das durch Mark und Bein geht. Es wird halt bloß etwas anderes angebetet und manchmal auch einfach der Überdruss am Leben zelebriert. Oder – ganz im Gegenteil und nicht obwohl, sondern weil der Tod so unheimlich präsent ist – das Leben selbst.
Dabei ist natürlich alles ein großes Schauspiel. Auch wenn Jette Steckel sich alle Mühe der Verknappung gibt: Nicht nur dampft sie den Text ein, der auf dem gewaltigen Dostojewski-Roman „Die Dämonen“ beruht („Für den ganzen Roman bräuchte man Tage“, erklärt sie im Programmheft, „für Camus’ Stück fünf Stunden“ – sie schafft es in gut zweieinhalb), auch die Bühne ist ein betörender Raum der Verdichtung.
Thalia Theater: Eine Messe der Verzweiflung
Steckel und Nadin Schumacher konzentrieren das Geschehen komplett auf die Vorbühne. Ein schwarzer Kasten, der dennoch etwas Kathedralenhaftes erhält durch die begrenzenden und bis in den Schnürboden hineinragenden Wände, auf denen sich Geister und Dämonen tummeln, Hieronymus-Bosch-Ungeheuer, Folterszenen und Alpträume, eine düstere Ikonenmalerei, auf der der Zuschauerblick wandern kann, wenn die Aufmerksamkeit sich trotz der Straffung zwischenzeitlich verabschiedet. Zumal mit Tim Burchardt ein stummer Lüftlmaler die Fassade permanent um neue Zeichnungen ergänzt. Andachtsvoll, geradezu meditativ, die gesamte Vorstellungszeit hindurch.
Das Personal, das sich darunter und davor auf dem vergleichsweise schmalen Streifen drängt, ist dennoch reichlich vorhanden. Eine Gauklertruppe, die sich knallige Farben in die Haare salbt und sich so für den Auftritt rüstet, bevor sie in den öffentlichen Schlagabtausch geht. „Es ist eine finstre Komödie, so zu tun, als ob man bereit wäre, das zu akzeptieren, was uns auferlegt ist“, hat Camus geschrieben. Und diese „finstre Komödie“ zeigt nun also Steckels buntbeschmierte Bande. Weil es ihr Ernst damit ist. Oder weil der Ennui sie dazu treibt. Oder aus Schicksalsergebenheit. Oder alles zugleich.
Thalia Theater: Steckels Inszenierung ist ein Debattiermarathon
Steckels Inszenierung ist ein streckenweise durchaus herausfordernder Debattiermarathon, aber sie schafft es, die theorielastigen Dialoge mit enormer Sinnlichkeit aufzuladen. „Um die Wahrheit wahrscheinlicher zu machen, muss sie immer mit Lüge vermengt werden“ heißt es, und das ist womöglich nichts anderes als die Anleitung zur Verführung. Ein „wandelnder Vorwurf“ wolle sie sein, kündigt Barbara Nüsse als kunstsinniger Stepan Werchowenski zum Auftakt an. Allein: „Möglicherweise lüge ich sogar jetzt, dummerweise glaube ich mir!“
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Wie ein Prolog steht das vor dem Theaterabend, dessen Themen zeitlos sind, der zwischenzeitlich aber ganz konkret gegenwärtig wird, wenn über die Abschaffung von Armee und Flotte sinniert wird, „um den Weltfrieden zu retten“, während die nur scheinbar naive Gegenfrage lautet: „Aber wie sollen wir wissen, dass die anderen dann nicht bei uns einmarschieren?“ Tja, genau.
Die Balance zwischen Gleichgültigkeit, Weltekel und dem Potenzial zur Revolte, zum Widerstand ist einer der Hauptspannungsbögen, getragen wird er von einem Ensemble zum Niederknien. Insbesondere zwei Männer stehen sich dabei gegenüber, beide haben einen anderen Umgang mit der Sinnlosigkeit des Seins: Um den unzugänglichen, ambivalenten Nikolai Stawrogin, dem Jirka Zett eine kühle Faszination gibt und dessen Moralerkenntnis weder ihn noch die anderen rettet, scharen sich mehr oder weniger labile Suchende, Idealisten, Lebensmüde, ein Haufen eigenwilliger Individuen (Lisa Hagmeister, Julian Greis, Nils Kahnwald, Meike Knirsch, Cathérine Seifert, André Szymanski). Sie alle projizieren eigene Wertesysteme, Ideen („Wer es wagt, sich umzubringen, ist frei“), Empfindungen und Visionen auf seine Figur, die statt Erlösung anzubieten ein „ironisches Leben“ lebt.
Viele Bravos und ein paar zaghafte Buh-Rufe
Der andere ist Pjotr Werchowenski, intriganter Sohn des Hauslehrers Stepan, ein viel kerligerer Lebemann, der als DJ an den Turntables die Beats bestimmt und das Kollektiv (im Wechsel mit Felix Knopp, der an der Orgel fantastisch ist) buchstäblich antanzen lässt. „Nihilisten glauben nicht an Nichts – sondern nicht an das, was ist“, hat er erkannt. Der charismatische Sebastian Zimmler spielt diesen skrupellosen Verführer ebenfalls absolut furios.
Nie kann man sicher sein, ob es sich bei dem, was da passiert, um eine fanatische Teufelsaustreibung handelt oder vielmehr um eine Teufelsbeschwörung. Seinen Vater Stepan, den die fast 80 Jahre alte, zierliche Barbara Nüsse spielt, hebt er mühelos mitten hinein ins Wandgemälde, die übrigen Gestalten will er in hemmungslos ausgelebter Überheblichkeit zur „Gruppe schmieden“, indem sie einen gemeinschaftlichen Mord begehen sollen. Das einzige aber, was wirklich allen gemein ist, ist die Selbstgerechtigkeit.
Ob es am Ende die an die „Thriller“-Zombies erinnernden Choreografien und sogar einen sich wirklich nicht erschließenden Mitmachteil des Publikums unbedingt gebraucht hätte? Vielleicht nicht. Womöglich gab es neben vielen Bravos auch dafür ein paar zaghafte Buhs für das Regieteam. Dem Publikum hatte Barbara Nüsse beim gemeinschaftlichen Abgang der „Besessenen“ zuvor einen Ratschlag für die eigenen Dämonen mitgegeben, der nach soviel Düsternis und geballtem Nihilismus eine verblüffende Leichtigkeit enthielt: „Leben Sie mehr!“
„Die Besessenen“ wieder am 29.1., 19 Uhr (nur noch Restkarten), 20.2., 20 Uhr, Thalia Theater (Alstertor), U/S Jungfernstieg, Karten unter T. 328 14-444 und www.thalia-theater.de