Hamburg. Xavier Giannoli nimmt sich ein Meisterwerk von Honoré de Balzac vor, eine Geschichte, die ihren Helden ans Messer liefert.

Johann Wolfgang von Goethe hatte so seine Schwierigkeiten mit dem 50 Jahre jüngeren Honoré de Balzac. Am 27. Februar 1832, als sich das Leben des Weimarer Dichterfürsten schon dem Ende entgegen neigte und sich der französische Kollege in einen produktiven Rausch hineinzuschreiben begann, schrieb Goethe übellaunig, es fielen bei Balzac „mehr Unvollkommenheiten ins Auge, als es brauchte, um ein gutes Buch zu ramponieren“ – um dann widerstrebend einzugestehen dass es dennoch unmöglich sei, „darin nicht das Werk eines über dem Durchschnitt gelegenen Talents zu erkennen“.

Ein herber Sozialrealismus wehte durch Balzacs Werke

An seinen „Verlorenen Illusionen“, die Xavier Giannoli nun so eindrucksvoll verfilmt hat, begann Balzac erst fünf Jahre nach Goethes Tod zu arbeiten, wohl aber kannte Goethe die frühen Arbeiten zum monumentalen Romanwerk des Franzosen, dem dieser später in Anspielung auf Dante den Titel „Comédie humaine“ geben sollte. Vieles daran erschien auf eine Weise modern, die Goethe unbehaglich gewesen sein mag: Ein herber Sozialrealismus wehte durch diese Essays, Kurzgeschichten und Romane, deren reiches Personal immer überraschend wiederkehrte, verbunden mit einem satirischen Furor und der Lust an Schonungslosigkeit gegenüber dem Frankreich der Restaurationszeit.

Was Goethe wohl zu dieser Absturzgeschichte gesagt hätte

Man fragt sich heute, was Goethe, mit dem „Wilhelm Meister“ einer der Ahnherren des deutschen Bildungsromans, wohl zu dieser Absturzgeschichte gesagt hätte, die ihren Helden so ungerührt ans Messer liefert. Und man merkt, wie tief der studierte Literaturwissenschaftler Giannoli in diese Geschichte eingetaucht ist.

Der junge, begnadete und hochattraktive Dichter Lucien (Benjamin Voisin), der sich zum Verfassen seiner Poeme auch einmal mit dem Stuhl aufs freie Feld setzt, arbeitet in der ­familiären Druckerei in Angou­lême und sieht in der Provinz kaum Perspektiven für ein Fortkommen. Die Einzige ist seine Mäzenin und deutlich ältere Geliebte Louise de Bargeton (Cécile de France), der er schließlich nach Paris folgt – in der Hoffnung auf Kontakte in die höchsten Kreise und gesellschaftliche Anerkennung.

Diese bleibt ihm jedoch zunächst versagt: Ein Besuch in der Oper verläuft katastrophal, auch weil Louise den Geliebten in der Öffentlichkeit auf Distanz halten möchte. Was als Hoffnungsschimmer begonnen hatte, endet schnell im Dunkel einer tiefen Krise.

Es regiert die korrupte Freude am Hoch- und Niederschreiben

Wenn da nicht der „Journalismus“ wäre, den man hier tatsächlich in Anführungszeichen setzen muss, weil er seinen Namen nicht verdient. Lucien lernt Étienne Loiseau (Vincent Lacoste) kennen, den Chefredakteur einer auflagenstarken Zeitung, die sich, auch hier müssen wieder Anführungszeichen her, dem „Kulturjournalismus“ verschrieben hat: Denn was hier an Kritiken produziert wird, hat mit Demut gegenüber der Kunst nichts und mit korrupter Freude am Hoch- und Niederschreiben sehr viel zu tun.

Man schaut mit einer Mischung aus Wehmut und Ekel auf dieses Treiben, in dessen Zentrum der umtriebige Verleger Dauriat (Gérard Depardieu) steht, der an Literatur nicht nur vollendet desinteressiert, sondern des Lesens gänzlich unkundig ist: Wehmut, weil hier von einem Primat des Schriftlichen erzählt wird, der in unseren Zeiten seinen schon länger währenden Sinkflug beendet. Und Ekel, weil man so viel Niedertracht gegenüber Sprache und Kunst einfach schwer aushalten kann.

Mit einer großartigen Ausstattung, einer überzeugenden Schauspielerriege und herrlich stimmiger Untermalung durch Barockmusik kann sich Giannoli hier einem Thema widmen, das ganz gegenwärtig ist: der Krise der Kritik. Ein Vergnügen, wie kurzweilig hier Medien-, Gesellschafts- und Dekadenzkritik miteinander verzahnt werden.

„Verlorene Illusionen“ 150 Minuten, ab 12 Jahren, läuft im Blankeneser, Zeise