Hamburg. Sylvain Cambreling führt seine Symphoniker Hamburg in der Laeiszhalle vom Stehhocker aus. Dafür gab es herzlichen Extra-Applaus.

Natürlich gibt es dafür einen herzlichen Extra-Applaus: Als Sylvain Cambreling sich aufs Pult wuppt, nachdem er die letzten Meter mit Krücken zurückgelegt hat. Auf dem rechten Bein hüpfend, da der linke Fuß eingeschient ist.

Eine Knöchelverletzung mit anschließender OP ist schuld. Aber: alles ok bei mir, so isses halt, signalisiert sein Wink ins Publikum. Die Proben hat er trotzdem machen können. Und jetzt auch das Konzert in der Laeiszhalle, mit seinem Orchester, den Symphonikern Hamburg.

Konzert in Hamburg: Sylvain Cambreling dirigiert an Krücken

Sein Radius ist naturgemäß kleiner als sonst, Cambreling sitzt auf einem Stehhocker. Aber das schadet nicht. Er dirigiert vital und flexibel. Mittänzeln fällt diesmal aus. Hätte ohnehin kaum gepasst – an einem Abend, der zwei schwergewichtige Werke in großer Besetzung vereint.

Zum Auftakt steht „Tout un monde lontain“ („Eine ganze ferne Welt“) auf dem Programm, das einzige Cellokonzert von Henri Dutilleux. Der 2013 verstorbene Franzose hat zwar nur wenige Stücke komponiert, aber an denen dafür umso länger herumgetüftelt. Über drei Jahre saß er an dem Konzert, inspiriert vom Gedichtband „Die Blumen des Bösen“ von Charles Baudelaire.

Die zwielichtige Atmosphäre der Texte, mit denen Baudelaire in die Abgründe des Bizarren und Morbiden hinabtaucht, spiegelt sich in der Musik. In fünf überwiegend langsamen Sätzen schafft Dutilleux eine Klangwelt von dunkler Magie. Die inszeniert Cambreling mit den Symphonikern dicht und spannungsvoll. Das Orchester grundiert das Stück mit oszillierenden Flächen, mit mysteriösen Akkorden und dem Rauschen des Schlagwerks.

Chefdirigent an Krücken: Souverän trotz Knöchel-Verletzung

Aus diesem Reich der düsteren Sinnlichkeit kommt auch der Solopart des Cellos. Er ist zwar nicht vordergründig virtuos, aber eben doch sehr anspruchsvoll: mit vielen Doppelgriffen und krassen Sprüngen auf dem Griffbrett, bis weit nach oben, in die Daumenlage.

Empfohlener externer Inhalt
An dieser Stelle befindet sich ein externer Inhalt von X, der von unserer Redaktion empfohlen wird. Er ergänzt den Artikel und kann mit einem Klick angezeigt und wieder ausgeblendet werden.
Externer Inhalt
Ich bin damit einverstanden, dass mir dieser externe Inhalt angezeigt wird. Es können dabei personenbezogene Daten an den Anbieter des Inhalts und Drittdienste übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung

Der junge Cellist Edgar Moreau – angestrubbelte Frisur, offenes weißes Hemd, leuchtend rote Socken – bewältigt all das souverän. Mit einer Sicherheit, die ihm erlaubt, sich auf den Ausdruck und die Farben der Musik zu konzentrieren. Auf das Raunen im Bassregister, mal warm, mal unheimlich. Auf die bissigen Akzente. Und auf die sanglichen, schönen, aber auch schmerzlichen Melodien. Moreau spielt sie mit sehnigem Ton, der direkt ins Zwerchfell geht. Wer hier auf Idylle wartet, wird enttäuscht. In der Musik schwingt ein bedrohlicher Unterton mit. Auch der majestätische Aufschwung kippt in Richtung Unheil, löst grelles Gleißen in Flöten und Percussion aus.

Trotz der riesigen, mit Akademisten der Symphoniker erweiterten Orchesterbesetzung, geht das Cello nie unter. Ein Beleg dafür, wie fein Dutilleux den Klang balanciert, aber auch, wie aufmerksam Cambreling, Moreau und die Symphoniker seine Vorstellungen umsetzen.

Keine einfache, aber eine sehr faszinierende Musik

Das ist keine einfache, aber eine sehr faszinierende Musik. Sie gibt dem Cello eine sinistre Aura, die Moreau mit hoher Intensität ausfüllt. Doch in der Zugabe löst er die beklemmende Stimmung auf: Nach dem halbstündigen Ausflug in die Schattenwelt wirkt die Sarabande aus Bachs C-Dur-Suite wie eine Insel des Friedens und der Ruhe. Moreau streicht mit schlankem Ton und wenig Vibrato. Er kann also, selbstverständlich, auch ganz anders.

So wie das Orchester. Cambreling kontrastiert das Cellokonzert von Dutilleux mit der vierten Sinfonie von Anton Bruckner. Seiner „Romantischen“, die ihm, mit Ende fünfzig, endlich den lang ersehnten Erfolg bescherte.

Cambreling formt die Stimmungsbilder mit weichen, kreisenden Gesten

Gleich zu Beginn installiert Bruckner den Grundton der Sinfonie. Wenn sich über dem Tremolo-Nebel der Streicher der Ruf des Solo-Horns erhebt, von Péter Gulyka warm und fließend gespielt. Das klingt erwartungsvoll. Ein neuer Tag bricht an, die Natur erwacht. Vögel zwitschern, später geht’s zur Jagd.

Cambreling formt die Stimmungsbilder mit weichen, kreisenden Gesten. Die Symphoniker folgen ihm aufmerksam, genießen die herrlichen Themen und beleuchten das Innenleben der Sinfonie – wo Motive kunstvoll variiert, verkleinert und von Instrument zu Instrument weiter gereicht werden.

Dass manche Unisono-Mischung der Bläser nicht in den Einklang findet, bleibt eine Randerscheinung. Ebenso wie die vereinzelten Schärfen im Fortissimo. Bruckner setzt ja gern auf sattes Blech, er schichtet Akkorde von herrlicher Pracht. Und wenn die Trompeten da so richtig abstrahlen, droht der Klang zu übersteuern.

Konzert in Hamburg: Cambreling spart sich das sonst übliche Auf- und Abgehen

Aber das passiert nur selten und ändert nichts am Gesamteindruck. Sylvain Cambreling und sein Orchester kosten den Reichtum der Musik in ihrer ganzen Bandbreite aus, mit der Wehmut im Andante, knackigen Rhythmen im Scherzo und einem verträumten Trio.

Sie führen den Spannungsbogen bis ins triumphale Finale – das in dieser Fassung der Sinfonie mit dem Einsatz des Beckens überrascht – und ernten am Ende ihren verdienten Beifall.

Cambreling spart sich das sonst übliche Auf- und Abgehen. Er verneigt sich ein paarmal am Pult, wirft eine Kusshand ins Publikum und winkt noch einmal von der Seite. Schön, dass er überhaupt dirigiert hat. Jetzt kann er den Fuß hoffentlich erstmal hochlegen.