Hamburg. Sopranistin Eleanor Lyons überstrahlt alles bei Beethovens Missa solemnis. Der Dirigent hingegen schwächelt gelegentlich.
Beethovens Missa solemnis ist eine der größten Herausforderungen, die die Klassik zu bieten hat. Stellenweise sogar eine echte Zumutung. Weil sie die traditionellen Vorstellungen von „Schönheit“ in Frage stellt, weil sie alle Beteiligten an ihre Grenzen treibt – und manchmal noch ein Stückchen darüber hinaus. Insbesondere die hohen Frauenstimmen überschreiten die Linie dessen, was noch einigermaßen angenehm singbar ist, mehrfach.
Die Sprengkraft des knapp 80-minütigen Mammutwerks zu vermitteln und gleichzeitig Beethovens Wunsch nachzukommen, die Musik möge „zu Herzen gehen“: Diese anspruchsvolle Aufgabe hat die Aufführung in der Elbphilharmonie unter Leitung von Philippe Herreweghe nicht ohne Mühen, aber packend bewältigt.
Elbphilharmonie: Ensembles dringen zum emotionalen Kern der Musik vor
Auch wenn sich der Zusammenhang zwischen den Gesten von Herreweghe und dem klanglichen Resultat für den Betrachter von außen nicht immer erschließt: Irgendwie gelingt es ihm, mit seinen Ensembles zum emotionalen Kern der Musik vorzudringen. Das Collegium Vocale Gent, das Orchestre des Champs-Elysées und die vier Solistinnen und Solisten finden vom ersten Ton an genau die Konzentration und Dichte, die dieses Stück braucht.
Sie ergründen die Tiefenschichten der Messe. Ihre Botschaften, die oft über den christlichen Glauben hinausweisen. Das Flehen um Hilfe in der Not, Den im Kyrie, von Vokalstimmen und Bläsern im Wechsel vorgetragen. Das energische, fast gewalttätige Ringen um Freude im Gloria, das sich am Ende bis zur Raserei steigert, ekstatisch und atemlos.
Und der Kontrast zwischen der Sehnsucht nach Geborgenheit und Trost auf der einen und Zuständen von Angst und Beklemmung auf der anderen Seite. Gegensätze, die in diesem Werk so hart aufeinanderprallen wie selten. Erst das innige Bekenntnis zum Glauben an Gott, der für uns herabgestiegen ist. Und dann das Wort „coelis“, die Mehrzahl von „Himmel“, als Aufschrei der Verzweiflung.
Orchestre des Champs-Elysées wirkt nicht ganz so einheitlich
Beeindruckend, wie flexibel die Soprane vom Collegium Vocale Gent zwischen den Extremen hin- und herswitchen. In einigen Passagen schwebt ihr Klang sanft und engelsgleich, wie am Ende des Sanctus, in anderen schalten sie ins Laserschwert-Register, glühend hell und scharf gebündelt.
Der Sopran ist die an diesem Abend führende, mitunter leicht hervorstechende Stimmgruppe des exzellenten, mit gut 40 Sängerinnen und Sängern besetzten Chores, der trotz der Strapazen immer wieder zu seinem homogenen Klang zurückfindet.
Dagegen wirkt das Orchestre des Champs-Elysées nicht ganz so einheitlich und geschlossen. Die transparente Akustik der Elbphilharmonie offenbart halt jeden Ausreißer. Aber sie bildet auch den besonderen Charakter der historischen Instrumente ab. Herrlich etwa der körnige Sound der Naturhörner, die neblig-dunkle Farbe vom Fagott.
Die beiden Frauenstimmen sind eine Wucht
Die in der Missa solemnis extraheikle Balance zwischen instrumentalen und vokalen Kräften ist sehr ausgewogen. Dadurch, dass das Orchester sensibel spielt und nie überdreht – aber auch weil der Chor einiges an Power zu bieten hat. Ebenso wie das Soloquartett.
- Nie gab’s in der Elbphilharmonie schneller Standing Ovations
- Hut ab! Daniel Behle singt mit viel angenehmem Pathos
- Igor Levit sorgt für extreme Gefühlsumschwünge
Vor allem die beiden Frauenstimmen sind eine Wucht. Die französische Mezzosopranistin Eva Zaïcik verströmt eine betörende Wärme, und die junge australische Sopranistin Eleanor Lyons überstrahlt alles.
Mit einem sinnlich leuchtenden Timbre, das auch im Pianissimo noch seinen edlen Schimmer bewahrt. Ihr scheint das Stück überhaupt keine Mühe zu machen, sie singt die krasse Partie geschmeidig und einfach hinreißend. Eine Riesen-Entdeckung. Wohlige Schauer garantiert.
Elbphilharmonie-Konzert entfacht mitreißende Intensität
Was die handwerkliche Ebene angeht, hat der Abend allerdings auch seine Schwächen. Im Kyrie schwimmt das Zusammenspiel taktelang, da wirkt Herreweghe tatsächlich ein bisschen verloren, müsste klarer dirigieren. Nicht nur hier droht ihm der Zugriff bisweilen zu entgleiten. Auch wenn Beethoven die Möglichkeit des Scheiterns in seine Messe einkomponiert hat: So nahe dran muss es dann doch nicht sein.
Trotz dieser Momente der Verunsicherung bleibt der Gesamteindruck stark. Die Aufführung entfacht eine mitreißende Intensität. Sie erschüttert und überwältigt, mit einer zeitlosen Dringlichkeit. Als die Bitte um Frieden („Dona nobis pacem“) kurz vor Schluss durch die kriegerischen Fanfaren von Pauken und Trompeten unterbrochen wird, wirkt die 200 Jahre alte Musik erschreckend aktuell.