Hamburg. Im Familienstück „Herr der Diebe“ rotiert die gesamte Theater-Maschinerie – samt Lagune und magischem Karussell.
Venedig ist auch nicht mehr, was es mal war. Dabei hatte die Mutter Bo und seinem Bruder Prosper doch immer so vorgeschwärmt: „Statt laufen zu müssen, gondelt man übers Wasser...“ Stattdessen „immer dieser Nebel, nicht mal richtiger Regen, das ist viel schlimmer als in Hamburg!“ murrt Bo und kassiert direkt den ersten Lacher vom Publikum.
Aber lieber Nebel als die kaltherzige Tante aus Norddeutschland, die nach dem Tod der Eltern nur Bo (Jonas Bonham Neubauer) adoptieren und Prosper (Cedric Eich) direkt ins Waisenhaus schicken will. Vor ihr sind die Geschwister davongelaufen, eben nach Venedig, wo es für sie am Schauspielhaus in einer neuen Bühnenfassung des Cornelia-Funke-Bestsellers „Herr der Diebe“ ziemlich schnell nasse Füße gibt.
Schauspielhaus: Aus der Bühne wird für Cornelia Funke eine Lagune
Denn die ganze enorme Schauspielhausbreite und -tiefe hat Bühnenbildner Robert Schweer zur Lagune geflutet. Auf Schritt und Tritt platscht und spritzt und patscht und pütschert es. „Müssen die hier jeden Abend von allen die Schuhe föhnen?“ flüstert ein Junge im ersten Rang beeindruckt, der offenkundig selbst seine Erfahrungen mit Riesenpfützen und durchnässten Tretern hat.
Der große und der kleine Theaterzauber haben es Regisseur Markus Bothe und seinem Team sichtlich angetan. Im Laufe des Abends bringt er die gesamte Maschinerie ins Rotieren, da werden ganze Spielebenen aus dem Schnürboden hinab- und wieder hinaufgefahren, großzügig wabert der Bodennebel über das Wasser, es blitzt, kracht und gewittert. Und nicht nur die Drehbühne gibt alles, sondern auch der für eben diesen Ablauf zuständige Chefinspizient Olaf Rausch, der zugleich als Kleindarsteller im Dauereinsatz ist und noch im Nonnenkostüm Dienstanweisungen an die Bühnentechnik ins Walkie-Talkie spricht.
Der "Herr der Diebe" und seine Gang hausen in einem verlassenen Theater
Das alte Kino, in dem bei Cornelia Funke die venezianische Kinderbande wohnt, die die beiden Ausreißer bei sich aufnimmt, ist hier – natürlich – ein verlassenes Theater, wobei: Eher ist es ein kolossales Klettergerüst aus Streben, Netzen und Strickleitern. Venedigs zahlreiche Möwen und Tauben gleiten über die rückwärtige Leinwand, während Bo und Prosper den vermeintlichen König der Diebe (Joey Nashaa Scholl) kennenlernen.
Seine Gang schützt die Jungs vor der zackigen Tante Esther, als die Jonas Hien dem zu argen Chargieren widersteht (er spielt außerdem den verschlagenen Hehler Barbarossa). Esthers töffeligen Gatten wiederum gibt Markus John (der insgesamt sogar vier Rollen übernimmt) so herrlich breit schnackend, dass er direkt gegenüber am Ohnsorg anheuern könnte.
Das liebevolle Spiel mit den Kostümrequisiten beherrscht vor allem Yorck Dippe: Als Privatdetektiv Victor Getz schlägt er sich nicht nur auf die Seite der Kinder, die er eigentlich ausspionieren soll, sondern hat auch eine schier unerschöpfliche, gerade in ihrer Harmlosigkeit ausgesprochen drollige Hut-, Bart- und Kartoffelnasenauswahl zur Verfügung. Sich anbietende Kalauer („Bis spätersilie!“) nimmt das Ensemble zur Freude der jüngeren Zuschauerinnen und Zuschauer gern mit. Und wer weiß, vielleicht schafft es auch die hübsche Beleidigung „Du aufgeblasene Seegurke“ demnächst auf den einen oder anderen Schulhof.
Ein magisches Karussell und ein musizierendes Gondel-Trio
Der Höhepunkt des Bühnenspektakels und ein echter Glamour-Moment ist das sich dramatisch auffaltende magische Karussell, das aus Halbstarken Erwachsene und aus Alten wieder Windelpupser machen kann. Es ist also ordentlich was los auf der Bühne, und trotzdem lässt sich Regisseur Bothe Zeit beim Erzählen. Der Handlung dürften auch jene Kinder gut folgen können, die den Funke-Roman bisher nicht kennen.
- Appell von Abdollahi: „Untaten des Iran-Regimes anprangern“
- Night of the Proms treibt inneren Lametta-Pegel auf Anschlag
- „Märchen im Michel“ – Sehen Sie hier das Video
Aus der Gondel begleiten drei Live-Musiker im charakteristischen Ringelshirt (Christian Gerber, Sönke Rust, Matthias Trippner) das Geschehen. Die eingestreuten Songs (Musik: Biber Gullatz), für die sich die Singenden bevorzugt direkt an der Rampe positionieren, sind in ihrer Qualität allerdings sehr unterschiedlich: manchmal etwas dicke in ihrer Befindlichkeitsduselei, manchmal frisch und witzig wie der gemeinsame Rap der Nachwuchspunks. Ein Knaller: Markus Johns pädagogisch so ganz und gar nicht wertvolle Anti-Gören-Hymne „Kinder sind iiihh...“, die es in der Retourkutschen-Version „Erwachsene sind iiihh...“ auch in die Zugabe schafft.
Schauspielhaus: Den allzu plump erhobenen Zeigefinger hätte man sich sparen können
Etwas ärgerlich, weil sogar das jüngere Publikum den allzu plump erhobenen Zeigefinger erkennt, ist der politisch korrekte „Touristenführer“ (Kolja Schumann), der in seiner gelben Greta-Gedächtnis-Öljacke permanent übereifrig in die Szenerie hüpft und Wissenswertes zur Zerstörung Venedigs einstreut. Wobei der Gedanke, die Magie zu brechen, grundsätzlich ja nicht verkehrt ist. Orte spielten in ihren Geschichten immer die Rolle eines Helden, wird Cornelia Funke im Programmheft zitiert, natürlich sei „Herr der Diebe“ auch eine Liebeserklärung an Venedig. Und der Zauber dieser Stadt, die von Touristenmassen und Kreuzfahrtriesen hartnäckig zu Tode geliebt wird, ist eben auch nicht mehr lange, was er einst war.
„Herr der Diebe“, Deutsches Schauspielhaus, die nächsten Nachmittagsvorstellungen: 18.12., 14 und 17 Uhr, 25.12., 17 Uhr, sowie 1.1.23, 16 Uhr; Karten unter T. 248713 und www.schauspielhaus.de