Hamburg. Die Rockband spielte zum zweiten Mal dieses Jahr in Hamburg, der Stadt ihrer Gründung. Es ging um Erinnerungen – und um Geld.

Im Bus Richtung Kulturfabrik bestand die Einstimmung aufs Konzert aus einer Adidas-Trainingsjacke. Die junge Frau trug also tatsächlich ein, nun ja, Tocotronic-Trikot. Als wär‘ es noch 1995! Und schon röhrte man innerlich „Nach Bahrenfeld im Bus“. Ging aber wie gesagt nach Winterhude, wo Kampnagel bekanntlich irritierenderweise liegt. Man ist gedanklich immer in Barmbek. Das klingt mehr nach Fabrik und Maloche.

Rockmusik ist auch Arbeit und muss jedenfalls abgeliefert werden. Das taten Tocotronic am Mittwochabend im ausverkauften K6, wo sich ältere und jüngere Anhänger der bald 30 Jahre alten Band eingefunden hatten.

Tocotronic in Hamburg: Neues Album "Nie wieder Krieg" stand im Mittelpunkt

Diesmal im Programm: keine historische Diskursrockrevue wie im August im Stadtpark, als die Band beinah ausschließlich Stücke ihrer frühen Hamburgjahre spielte. Stattdessen gab es diesmal das Set zur neuen, im Januar erschienenen Platte „Nie wieder Krieg“. Wer derzeit mit solch einem Slogan ins Rennen geht, könnte das auch auf einem Konzert einfach mal wirken lassen. Oder halt das Offensichtliche sagen. Das tat Dirk von Lowtzow, nachdem die Band zu den Klängen von Prokofjews „Rittertanz“ die Bühne betreten hatte.

Das Titelstück des neuen Albums habe man im April 2018 geschrieben, als eine Art Traumtext bezüglich dramatischer Ereignisse rund um die Band, als „Gnadengesuch nach Frieden vor innerer Zerrissenheit“. Dann sei es zum Krieg in der Ukraine gekommen. Lowtzow: „Unsere Solidarität gilt dem angegriffenen Land, unsere Abscheu dem kleptokratischen Aggressor.“ Und: alle Solidarität den Flüchtlingen im Widerstand gegen die, die diese als „Sozialtouristen“ bezeichneten.

Kennengelernt hatten sich die Band beim Konzert

Unmißverständliche Worte also, wie könnte man sie je überflüssig finden? Danach galt nicht das gesellschaftliche, das politische Wort, sondern die Sprache des Rock. Seit es Tocotronic gibt, ist die akademisch und lyrisch aufgeladen und leider beziehungsweise gottlob nix fürs Formatradio. Auch auf dem 13., formidablen Album „Nie wieder Krieg“, mit dessen Songs die Band ins Konzert startete. „Komm mit in meine freie Welt“, das wunderschön elegische „Hoffnung“, und natürlich „Jugend ohne Gott gegen Faschismus“, von Lowtzow mit der Aufforderung verbunden, Kampnagel in, genau, eine „agnostische, antifaschistische Indiedisco zu verwandeln“.

Klappte auch so halbwegs, obwohl das Publikum, was besonders Hamburg-typisch ist, ein wenig brauchte, um warm zu werden. Apropos: Da war ja was, Stichwort Heimkehr. Wer nach den Album-Aktualitäten recht zügig mit dem Uralt-Brachialwerk durchs Programm bretterte – inklusive des unvermeidlichen „Die Welt kann mich nicht mehr verstehen“ –, der war halt auch auf der Überholspur in die Vergangenheit. Arne Zank, Jan Müller und er hätten sich einst erstmals zu dritt in der Zinnschmelze in Barmbek getroffen, erzählte Lowtzow. Bei einem Konzert von Bernd Begemann.

Hamburg-Kritik: „Es ist schon teuer hier"

Der ist gerade 60 geworden, was natürlich der Wahnsinn ist und viel über das eigene Älterwerden aussagt. Davon sprach Lowtzow höchstens implizit, lieber erwähnte er den anderen „Wahnsinn“, nämlich die vielen gedanklichen Heimsuchungen dieser Tage, „wie viele Erinnerungen hier in Hamburg hochkommen!“

Man könne hier auch wohnen, in Hamburg, rief ihm da einer aus dem Publikum zu. Ein Besucher, der damit den Verlustschmerz der Freien und Indierockstadt Hamburg bündig in eine Rückkehraufforderung umwandelte. Wie manch andere Musiker sind die „Tocos“ vor vielen Jahren schon nach Berlin abgewandert. Lowtzow drückte sich nicht vor einer Antwort und kam dabei in der Stadt der Kaufleute (Rocker können keine Reedereien betreiben) auf das Geld: „Man kann hier auch wohnen, ja, und gar nicht schlecht. Aber ein bisschen teuer ist es.“

Womit die eigentliche, völlig simplifizierte Interpretation des Tocotronic-Gassenhauers „Aber hier leben, nein danke“ (geilstes Anti-Anthem überhaupt), der auf Kampnagel wie immer fröhlich mitskandiert wurde, verdeutlicht wurde. Dass Tocotronic den neuen Song „Ich hasse es hier“ auch spielten, hatte aber, sicher doch, gar nichts zu bedeuten.

Tocotronic in Hamburg: Einfach eine gute Live-Band

Die Songauswahl überraschte nicht und war doch oder deswegen überzeugend. Ein sonisches „Eure Liebe tötet mich“, das betörende „Ich tauche auf“ (ohne Duettpartnerin Anja Plaschg) und „This Boy Is Tocotonic“ – was wäre aus dieser Band eigentlich ohne den einstigen, längst eingehamburgten amerikanischen Neuzugang Rick McPhail geworden? „The magic man“ titulierte Lowtzow den Gitarristen in Winterhude. Geht klar. Mit McPhail wurden die Tocotronic-Kompositionen elaborierter und all das; Facettenreichtum ist nicht der Tod des Punk, das zeigen Konzerte wie dieses, wo die Drei-Akkorde-Einfachheiten neben Balladen mit Schönklang vital weiter existieren. Und „Hi Freaks“, übrigens, ist live ja auch ein ganz herrlich zusammengepunktes, auch aufs Lärmende konzentrierte Stück.

Das gleißende Licht, das die Technik bisweilen aufstrahlen ließ, blendete bis in die letzten Reihen bei Tocotronics deutschen Hymnen mit Refrain. Die spielt die Band sowieso mit geschlossenen Augen, als hundertfach geprüfte und für gut befundene Live-Truppe.