Hamburg. Die Inszenierung des berühmten Musicals in der Barclays Arena ist ziemlich originell. Es gibt auch einen sehr düsteren Moment.

Die (sexuelle) Revolution frisst ihre Kinder. Denn: Wie könnte es sonst sein, dass Richard O’Briens Musical „The Rocky Horror Show“, uraufgeführt 1973 als gleichzeitig gallige Satire auf Spießertum und mitreißende Feier spielerischer Sexualität, heute ziemlich alt aussieht? Angesichts der Tatsache, wie erbittert aktuell über Fragen von Transidentität gestritten wird, wird schnell klar, dass der schmissige Song vom „Sweet Tranvestite from a transsexual Transsilvania“ nicht die Antwort sein kann. Einerseits.

Andererseits ist die Botschaft des Musicals – Sex macht Spaß, Fetische sind vor allem unterschiedliche Ausprägungen dieses Spaßes, und sexuelle Tabus sind was für Langweiler – ja alles andere als unsympathisch. Und O’Briens Songs mögen in ihrer Rock’n’Roll-Konventionalität auch nicht perfekt gealtert sein, aber wenn man sich auf sie einlässt, haben sie dennoch Ohrwurmcharakter.

"Rocky Horror Show" in Hamburg: nur auf den ersten Blick Musical-Dutzendware

Zumal sie bei der Tourproduktion „Richard O’Brien’s Rocky Horror Show“, die aktuell in der Barclays Arena gastiert, auch von einer druckvollen Band um Keyboarder Dan Tomkinson gespielt werden. Und sobald diese Songs einen gepackt haben, erkennt man, worin die Qualität des Stücks liegt: Nicht darin, dass hier der aktuelle Stand im Sexualitätsdiskurs referiert wird. Sondern darin, dass hier aufs Reizendste formale Grenzen eingerissen werden.

Auf den ersten Blick ist das Stück Musical-Dutzendware: Große Stimmen singen sich durch harmonische Lieder. Nur dass O’Brien und sein Ko-Autor Jim Sharman diese Dutzendware in eine Mischung aus B-Movie-Trash und Sexgroteske kippen lassen, während die Songs zwar grundsätzlich traditionell angelegt sind, dabei aber Blues, Rock, Vaudeville zitieren. Nichts, womit sich diese professionellen Musicalstimmen auskennen.

„Man kann die Show selbst als einen B-Movie sehen“

Weswegen sie sich zunächst orientieren müssen, ähnlich wie die Hauptfiguren Brad (Sev Keoshgerian) und Janet (Charlotte Ann Steen), die eine Autopanne in das Anwesen des sinistren Frank’n’Furter (Oliver Savile) verschlägt. Wo sie auch erstmal zu kapieren haben, dass sie hier erstens eine Orgie erwartet und zweitens die Erschaffung eines künstlichen Menschen: Rocky (Ryan Goscinsksi), der ein paarmal mit der Brustwarze zwinkert und so in Janet fleischliche Gelüste weckt. Sex, Gewalt, Hybris. Nichts, womit man in der heterosexuellen Zweisamkeit umzugehen gelernt hat. Und wie die Musik diese Verunsicherung nachzeichnet, das ist schon ziemlich raffiniert gemacht.

Regisseur Sam Buntrock versucht entsprechend gar nicht, den Stoff irgendwie fürs Jahr 2022 fit zu machen und konzentriert sich stattdessen auf das Formale. „Man kann die Show selbst als einen B-Movie sehen“, beschreibt der Brite seinen Zugang zum Stück. „Frank hat das meiste von dem, was er über die Menschheit weiß, aus diesen Filmen gelernt. Deshalb versucht er, einen dafür typischen Plot nachzustellen.“

Frank’n’Furters Heim (Bühne: David Farley) ist hier also ein Museum alter Trashfilme, als sich die Orgiengesellschaft zusammenfindet, versammelt sie sich um einen Super-8-Projektor, und als das Publikum die Halle betritt, flimmern in die Jahre gekommene Filmtrailer über die Leinwand. „Tarantula“ (1955), mehr unfreiwillig komisch als beängstigend, aber echten Schrecken bietet „The Rocky Horror Show“ auch nicht.

„The Rocky Horror Show“ in Hamburg: einmal wird es düster

Wobei, an einer Stelle bleibt einem kurz das Lachen im Halse stecken: als Frank’n’Furters Ex-Liebhaber Eddie (Jordan Castle) mit „Hot Patootie“ kurz eine ganz ungebrochene Maskulinität zelebrieren darf und gleich darauf folgerichtig gemeuchelt wird. Da spürt man, dass dieser Stoff auch böse sein kann, dass es hier nicht immer nur um freundliches Entertainment geht, sondern einmal tatsächlich um Gewalt. Das aber ist nur ein kurzer Ausbruch ins Dunkle, dann übernimmt wieder der Spaß, und das Publikum spielt mit, wie es von ihm erwartet wird. Im Laufe der Zeit hat sich um „The Rocky Horror Show“ eine spezielle Form der Zuschauerbeteiligung entwickelt: Wenn es im Stück regnet, wird mit Wasser gespritzt, zu einer Hochzeitsszene wird Reis geworfen. Und sobald der Erzähler auftritt, wird er beschimpft: „Boring!“

Martin Semmelrogge als Erzähler hat als einziger deutschsprachigen Text: Zum einen fasst er die Handlung ironisch zusammen, zum anderen fungiert er als Conférencier, der die Übergänge zwischen den Nummern überbrückt. Und dabei die Zuschauer ebenso frontal angeht wie sie ihn. „Ich bin intellektuell und kulturell absolut unterfordert.“ Naja.

Ist „The Rocky Horror Show“ also eine Unterforderung? Nicht wirklich, dafür ist das Stück trotz seines etwas gestrigen Aufbaus immer noch zu klug und die Inszenierung zu originell. Ist es aber ein großer Spaß? Auf jeden Fall. Und vielleicht kann man das als Fazit dieses Abends mitnehmen: dass man den Spaß nicht zu gering schätzen sollte. Spaß und Sex, das gehört schließlich zusammen.

„The Rocky Horror Show“ bis 7. August, 19.30 Uhr, Barclays Arena, Sylvesterallee 10, Tickets über www.rocky-horror-show.de; 9. bis 14. August in Bremen, Metropol-Theater