Hamburg/Frankfurt. Die in Paris lebende Schriftstellerin erhält die renommierte Auszeichnung für ihr Werk „Annette, ein Heldinnenepos“.

Weltläufiger war diese Auszeichnung nie: Der Deutsche Buchpreis 2020 geht an die in Paris lebende Schriftstellerin Anne Weber. Zum „Roman des Jahres“ gekürt wurde ihr Werk „Annette, ein Heldinnenepos“. Und damit sicher eine der außergewöhnlichsten Bucherscheinungen in diesem Kalenderjahr.

Weber, deren literarisches Werk sowohl in deutscher als auch französischer Sprache erscheint, erzählt in ihrem Buch die Lebensgeschichte der französischen Widerstandskämpferin Anne Beauma­noir. Die bald 97-Jährige ist in Frankreich vielen ein Begriff und eine wichtige Zeitzeugin. Anne Weber selbst lernte Beaumanoir auf einer Veranstaltung kennen. Genauer gesagt, saßen die beiden Frauen gemeinsam auf einem Podium.

Deutscher Buchpreis: Jury lobt Frische der alten Form des Epos

In einem Text, der auch die Selbstironie nicht scheut, beschreibt Weber in „Annette, ein Heldinnenepos“ diese erste Begegnung und sich selbst in der dritten Person: „Annette ergreift das Wort, wie es so heißt, das Wort greift über, dehnt sich aus, und eine, die dort oben sitzt, so eine dieser großen ernsten Deutschen, schaut Annette an, als hätte sie gemerkt, dass sie am besten Mal die Klappe hält.“

Das ist der Ton dieses bemerkenswerten Buches, dessen größte Besonderheit aber seine Form ist. Es ist tatsächlich formal ein Epos und folgt dem Satzbild mit ungereimten Versen auf die sehr althergebrachte antike Weise. „Die Kraft von Anne Webers Erzählung kann sich mit der Kraft ihrer Heldin messen“, heißt es in der Begründung der siebenköpfigen Jury. Es sei „atemberaubend, wie frisch hier die alte Form des Epos klingt“.

Anne Beaumanoir wurde sehr jung Kommunistin und gehörte im Zweiten Weltkrieg zur Résistance, ehe sie in den 1950er-Jahren die Nationale Befreiungsfront der Algerier unterstützte und dafür ihre bürgerliche Existenz opferte. Die Öffentlichkeit stempelte sie zur unpatriotischen Schurkin, und davon wie auch von ihrem späteren zuerst rastlosen, dann wieder sesshaften Leben als Ärztin in der Schweiz erzählt Weber in einem Text, der an vielen Stellen leichthändig, stellenweise gar salopp daherkommt, aber nie den Charakter einer literarischen Würdigung verliert.

Deutscher Buchpreis: Anne Weber galt als Geheimtipp

„Annette, ein Heldinnenepos“ ist nie pathetisch und auf hintersinnige Weise eine Hommage an eine moralische Haltung, die nie ins Wanken gerät. Nach ihrem Eintreten für den algerischen Befreiungskampf wurde Anne Beaumanoir zu einer zehnjährigen Haftstrafe verurteilt. Nach einem halben Jahr entzog sie sich dieser durch die Flucht nach Nordafrika. Sie lebte in Tunesien und arbeitete anschließend für die algerische Regierung. Beaumanoir stand ohne Rücksicht auf eigene Verluste für ihre Überzeugungen ein und für manches, das sie mit dem späteren Wissen nicht mehr gut geheißen hätte.

 Der Text – er liest sich trotz der Versform wie Prosa – fragt dennoch einmal, als er auf den religiösen Rigorismus einiger Algerien-Befreier zu sprechen kommt: „Warum machst du da mit,/Annette, warum setzt du dein Leben ein für diese Leute? Nicht/für die Leute, wirst du sagen, sondern für alle, für die /Menschheit, für das Prinzip von Gleichheit und/Gerechtigkeit, für einen Zweck, Annette!“

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Anne Weber war der Geheimtipp in diesem Jahr, andere wie Thomas Hettche („Herzfaden. Roman der Augsburger Puppenkiste“) und die großartige Debütantin Deniz Ohde („Streulicht“) galten eher als Favoriten. Am Ende entschied sich die Jury für einen einerseits zeitlos politischen Titel, der von den Verheerungen eines Jahrhunderts erzählt und dabei die Triumphe und Irrwege des Befreiungskampfs in den Blick nimmt. Dass andererseits in einer gesellschaftlichen Phase, in der Heldinnen eine größere Rolle als Helden spielen, die Literatur gewordene Lebensgeschichte einer Frau, aufgeschrieben von einer Frau, den Deutschen Buchpreis gewinnt, folgt einer begrüßenswerten Logik.

Im vergangenen Jahr gewann ein Hamburger

Die 1955 in Offenbach geborene Anne Weber ist im 16. Jahr die achte Schriftstellerin, die den Deutschen Buchpreis gewinnt. Die Auszeichnung ist mit 25.000 Euro dotiert. Die Verleihung im Frankfurter Römer fand wegen der Corona-Pandemie ohne Publikum statt. Die übrigen fünf Autoren der Shortlist erhalten jeweils 2500 Euro: Neben den genannten Hettche und Ohde sind dies Bov Bjerg („Serpentinen“), Dorothee Elmiger („Aus der Zuckerfabrik“) und Christine Wunnicke („Die Dame mit der bemalten Hand“).

Die Gewinner der vergangenen Jahre:

  • 2005 Arno Geiger
  • 2006 Katharina Hacker
  • 2007 Julia Franck
  • 2008 Uwe Tellkamp
  • 2009 Kathrin Schmidt
  • 2010 Melinda Nadj Abonji
  • 2011 Eugen Ruge
  • 2012 Ursula Krechel
  • 2013 Terézia Mora
  • 2014 Lutz Seiler
  • 2015 Frank Witzel
  • 2016 Bodo Kirchhoff
  • 2017 Robert Menasse
  • 2018 Inger-Maria Mahlke
  • 2019 Saša Stanišicć

Für den Berliner Verlag Matthes & Seitz ist es das zweite Mal, das ein Titel aus seinem Programm den Buchpreis gewinnt. 2015 erhielt Frank Witzel die Auszeichnung für sein Werk „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“.

Im vergangenen Jahr hatte Saša Stanišić den Deutschen Buchpreis gewonnen. Der Hamburger Schriftsteller wurde 2019 für „Herkunft“ ausgezeichnet.