Hamburg. Der Berliner Sänger gab mit seiner Band im Gruenspan ein fantastisches Konzert. Warum er sich von seinem Namen distanzieren will.
Die Bühne tiefschwarz im Nebel, Tom Schilling in schwarzem Anzug, am Monochord, empfing ein überschaubares Publikum mit einer Stimme, die an Hildegard Knef erinnert. Nur rund 100 Gäste hatte die letzte Abendsonne am Mittwoch ins Dunkel des Gruenspan entlassen. Man hatte eine solch düstere Atmosphäre erwartet. Schließlich war dem Konzert ein öffentlicher Sinnes- und Imagewandel des Berliner Sängers vorangegangen.
Der Schauspieler („Fabian oder Der Gang vor die Hunde“) will künftig nicht mehr mit seinem Namen und der Band „The Jazz Kids“ auftreten, sondern mit „Die andere Seite“ eine Art von Distanz zu seiner Person schaffen. Und damit auch einem anderen Stil Raum geben, „Ins Nichts“ ist ein Ausflug in Dark und Progressive Rock, ebenso „Das Lied vom ich“.
Tom Schilling gibt mit Band Konzert im Gruenspan
Im Video fechtet Schilling gegen sein anderes Ich, es geht um Neid, Zorn, das Falsche, das boshafte Wort, den Splitter unter der Haut. Auf dem Albumcover ist Schillings Gesicht zerschnitten, zerteilt in weiße und schwarze Flächen.
Nun hat sich Tom Schilling auch mit seinem ersten Album „Vilnius“ (2017 – „neue deutsche Lieder über die Liebe und den Tod“) nicht gerade als happy guy präsentiert. Doch auf dem ersten Album von Die andere Seite, das am 22. April erschienen ist, geht er noch eine emotionale Oktave tiefer.
„Epithymia“, so der Name, bedeutet auf Griechisch Sehnsucht, Verlangen. In den Liedern „Heller Schein“ und „Königin“ wird eine von Schilling in Interviews zitierte Sehnsucht nach Liebe, innerem Frieden, einem Ankommen, letztlich die Sehnsucht nach dem Tod spürbar: „Wer weiß, wohin wir von hier gehen/ sag mir, wie weit willst du gehen/ welcher Mensch wirst du sein – wann vergeht dein heller Schein?“.
Zu Tränen rühren, das kann Tom Schilling
Nur kurz begrüßte Schilling den Saal, um dann mit den schnellen Beats von „Kalt ist der Abendhauch“ die Stimmung zu lösen. Das Publikum ging dankbar und begeistert mit, als der Hit „Kein Liebeslied“ erklang, die schnellen Nummern „Ballade von René“ und „Genug“, ebenfalls vom Vorgängeralbum, gespielt wurden.
Auch in den neuen Liedern „Bitter und süß“ und „Die Weide“ knüpft Schilling an seinen gewohnt melancholisch-melodiösen Stil an. Aljoscha ist eine mit leichter Gitarre gespielte Ballade, zu der Schilling durch das russische Filmdrama „Loveless“ inspiriert wurde. Darin geht es um einen Jungen, der von seinen getrennten Eltern vernachlässigt wird. Zu Tränen rühren, das kann Tom Schilling hervorragend mit einer Stimme, die direkt aus seinem Unterbewusstsein zu sprechen scheint. Mit „Kinder“, einer Leihgabe der Berliner Sängerin Bettina Wegner, setzte er noch eins drauf auf die Gefühlsschippe.
„Die andere Seite“ lieferte mit dieser Mischung aus Rock und Balladen, neuen und bekannten Songs, ein fantastisches Konzert, das viel zu schnell zu Ende ging und viel zu wenig Besucher hatte. War es der erste warme Sommerabend, die Angst, sich mit Corona zu infizieren oder „nicht die richtige Zeit für traurige Lieder“? So hatte Tom Schilling auf seiner Facebook-Seite die Absage seines Konzerts am Folgetag in Frankfurt am Main verkündet. Dort wurden für einen Auftritt zu wenig Karten verkauft.
„Hamburg liebt dich!“ kam es aus Tom Schillings Publikum
Auch in Hamburg hatte man wohl befürchtet, dass das Konzert ausfällt. Laut Veranstalter wurden 200 Karten verkauft (normalerweise passen gut 900 Leute in den Club). Davon war nur die Hälfte gekommen. „Absagen? Keinesfalls“, kokettierte der sympathische Sänger vor einem Publikum, das ihm viel positive Energie entgegenbrachte – „Hamburg liebt dich!“.
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Tatsächlich war es ein ganz anderes Publikum als noch im Dezember 2019, als Schilling und seine „Jazz Kids“ im ausverkauften Docks das „Vilnius“-Album gespielt hatten. Damals war die Neugierde auf den Star wohl größer als auf dessen Songs. Im Gruenspan, das war am Mitgehen, Mitsingen zu spüren, hatte sich eine richtige Fangemeinde seiner Musik versammelt. Tom Schilling hat seine andere Seite gezeigt. Und es scheint, als sei er tatsächlich angekommen. Vom singenden Schauspieler zum Sänger.
Nach großem Jubel kam die Band noch zwei Mal auf die Bühne, gab nach der „Ballade vom Eisenofen“ den Song „Als wär’s das letzte Mal“ als Zugabe. Oder sagen wir lieber: Hingabe.